Du stellst dich auf die Fußspitze, wie ich dir schon sagte, und so kannst du bis an die Tasche des Gliedermanns reichen. Du fühlst hinein und ziehst eine Börse, die sich dort befindet, heraus; tust du dies, ohne daß man den Schall einer Schelle hört, so ist das sehr gut, du bist Landstreicher und wirst nur noch acht Tage lang täglich geprügelt.“ – „Bei Gott! Das kann ich nicht. Und wenn die Schellen tönen?“ – „Dann wirst du gehängt. Verstehst du mich?“ – „Durchaus nicht.“ – „So höre noch einmal. Du fühlst in die Tasche der Gliederpuppe und stiehlst ihr eine Börse. Sobald eine Glocke bei der Operation Lärm schlägt, wirst du gehängt. Verstehst du jetzt?“ – „Ja, und dann?“ – „Wenn es dir gelingt, die Börse zu stehlen, ohne daß man eine Schelle hört, bist du Landstreicher und wirst acht Tage hintereinander geprügelt. Jetzt verstehst du mich gewiß?“ – „Nein, gnädiger Herr, noch nicht. Wo ist mein Vorteil? In einem Fall gehängt, im andern geprügelt?“ – „Nun, du bist Landstreicher, ist das nichts? Zu deinem eigenen Nutzen prügeln wir dich, um dich gegen Schläge abzuhärten.“ – „Danke.“ – „Wohlan, eile!“ sprach der König, indem er die Tonne mit dem Fuße stampfte, daß es laut widerhallte. „Befühl die Gliederpuppe! Munter, vorwärts! Ich sage es dir zum letztenmal, und höre ich eine einzige Schelle, so nimmst du den Platz der Puppe ein.“
Die Landstreicherbande klatschte Beifall und umstellte mit so unerbittlichem Lachen den Galgen, daß Gringoire sehr wohl einsah, er mache ihnen zu viel Vergnügen, um nicht alles zu befürchten zu müssen. Es blieb ihm keine andere Hoffnung mehr übrig, als das unwahrscheinliche Ereignis, die furchtbare Operation, die man ihm auferlegt hatte, möchte ihm gelingen. Er entschloß sich also zu dem Wagestück, jedoch nur, nachdem er ein heißes Gebet an den Gliedermann, den er bestehlen sollte, gerichtet hatte. Die tausend Schellen mit ihren kleinen kupfernen Zungen erschienen ihm als ebenso viele offene Schlangenrachen, bereit zu zischen und zu beißen.
„O Gott“, sprach er leise, „ist’s möglich, daß mein Leben von der kleinsten Bewegung der kleinsten Schelle abhängt! Oh“, fügte er mit gefalteten Händen hinzu, „ihr Schellen! Läutet nicht, läutet nicht!“
Er versuchte noch einmal, Trouillefou zu erweichen. „Und wenn ein Windstoß mir über den Hals kommt?“ – „Dann wirst du gehängt“, sagte Trouillefou ohne Bedenken. Als Gringoire sah, daß weder Rast, noch Ausflucht, noch Aufschub zu erhalten war, faßte er einen kühnen Entschluß. Er schlug den rechten Fuß um den linken, stellte sich auf die Zehen des linken, streckte den Arm aus … aber im Augenblick, da er die Puppe berührte, wankte sein Körper, der nur auf einem Fuß ruhte, auf dem Schemel, der nur auf dreien stand; mechanisch griff er nach der Puppe, sich zu halten, verlor das Gleichgewicht und fiel, betäubt vom Lärm der tausend Schellen, zu Boden. Die Puppe wich dem Stoße seiner Hand, drehte sich in kreisförmiger Bewegung und schwankte dann majestätisch zwischen den beiden Pfählen. „Verflucht!“ rief er fallend und blieb wie tot mit dem Gesichte auf dem Boden liegen. Da vernahm er den furchtbaren Schellenlärm über seinem Haupte, das Lachen der Gauner und Trouillefous Stimme: „Hebt den Schelm auf und hängt ihn ohne weitere Umstände!“
Er stand auf. Die Puppe hatte man schon losgebunden, um für ihn Platz zu machen. Die Kauderwelschen hießen ihn auf den Schemel steigen, Clopin trat zu ihm, legte die Schlinge um seinen Hals und klopfte ihm auf die Schulter mit den Worten: „Leb wohl, Freund, jetzt kannst du nicht entwischen, selbst wenn du mit den Gedärmen des Papstes verdautest.“
Das Wort Gnade erstarb auf Gringoires Lippen; er ließ seinen Blick in die Runde schweifen; aber keine Hoffnung; alle lachten.
„Bellevigne de l’Etoile!“ sprach der König zu einem riesenhaften Landstreicher, der aus der Reihe hervortrat; „klettere auf den Querbalken.“
Bellevigne stieg gemächlich hinan, und Gringoire, als er die Augen aufschlug, erschrak, ihn gerade über seinem Haupte sitzen zu sehen.
„Sobald ich mit den Händen klatsche“, begann Clopin aufs neue, „stößt du, Andry le Rouge, die Fußbank mit einem Tritt um; du, François Chante-Prune, hängst dich an die Beine des Schelmes; du, Bellevigne, springst ihm auf die Schultern. Versteht ihr, in einem und demselben Augenblick!“
Gringoire klapperte mit den Zähnen. „Seid ihr fertig?“ sprach Clopin zu den drei Landstreichern, die bereit waren, über Gringoire herzufallen. Der arme Patient hatte einen Augenblick der furchtbarsten Erwartung, während Clopin ruhig mit seiner Fußspitze einige Weinstockreben ins Feuer stieß, die von der Flamme noch nicht erreicht waren. „Seid ihr fertig?“ wiederholte er und öffnete die Hände zum Klatschen. Noch eine Sekunde, und um Gringoire war es geschehen. Clopin hielt aber plötzlich inne, als wäre ihm etwas eingefallen. „Noch einen Augenblick“, sagte er, „ich hatte etwas vergessen. Es ist Sitte, daß wir niemanden hängen, ohne vorher zu fragen, ob ihn eine Frau haben will. Kamerad, das ist dein letzter Rettungsweg.
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