Sie schnitt ihr kleines, verächtliches Mäulchen, richtete das Haupt wie ein Vogel auf, lachte auf, und der Dolch verschwand, wie er hervorgekommen war. Gringoire konnte nicht sehen, wo die Biene ihren Stachel verbarg. Gleich darauf lag auf seinem Tische ein Roggenbrot, ein Stück Speck mit einigen gerunzelten Äpfeln; daneben stand ein Bierkrug. Gringoire aß mit Leidenschaft. Hörte man das Klirren seiner eisernen Gabel auf dem Teller, so hätte man gewiß gesagt, alle seine Liebe sei in Hunger verwandelt.
Das junge Mädchen schwieg und ließ ihn nach Belieben in den Speisen aufräumen. Ein anderer Gedanke weilte offenbar in ihrer Seele; bisweilen lächelte sie sinnend, während ihre weiche Hand den klugen Kopf der Ziege, der zwischen ihren Knien ruhte, liebkoste.
Ein gelbes Wachslicht beleuchtete diesen Auftritt des Heißhungers und des Nachsinnens. Nachdem das erste Bellen seines Magens besänftigt war, fühlte Gringoire indes einige falsche Scham, als er sah, daß nur noch ein Apfel übrig war. „Ihr eßt nichts, Fräulein Esmeralda?“
Zur Antwort schüttelte sie den Kopf und heftete den Blick auf das Gewölbe des Zimmers. „Zum Teufel, woran denkt sie?“ sprach Gringoire zu sich selbst und ließ seine Augen der Richtung der ihrigen folgen, „die Fratze des steinernen Zwerges am Schlußstein des Gewölbes kann doch ihre Aufmerksamkeit nicht so in Anspruch nehmen. Zum Teufel! Dem Vergleich bin ich gewachsen!“
Er rief laut: „Fräulein!“ – Sie schien ihn nicht zu hören. – „Fräulein Esmeralda!“ – Verlorene Mühe. Der Geist vermochte nicht mehr, ihn zu sich herab zu beschwören. Glücklicherweise kam ihm die Ziege zu Hilfe und zupfte ihre Herrin sanft am Ärmel.
„Was willst du, Djali?“ fuhr die Zigeunerin lebhaft auf. – „Sie fühlt Hunger“, sagte Gringoire, entzückt, daß eine Gelegenheit, ein Gespräch anzuknüpfen, sich darbot. Esmeralda zerkrümelte ein Brot, welches Djali anmutig aus ihrer hohlen Hand fraß. Übrigens ließ ihr Gringoire jetzt keine Zeit, wieder in ihr Sinnen zu versinken. Er wagte eine zweite Frage: „Ihr wollt mich also nicht zum Manne?“ – Das junge Mädchen sah ihn starr an und erwiderte: „Nein.“ – „Zum Liebhaber?“ – Sie schnitt ihr Mäulchen und erwiderte: „Nein!“ – „Zum Freunde?“ – Sie betrachtete ihn noch einmal mit starrem Blick und sagte nach einem Augenblick des Nachsinnens: „Vielleicht.“
Dies bei den Philosophen so sehr beliebte Vielleicht gab Gringoire neue Kühnheit. „Wißt Ihr auch“, fragte er, „was Freundschaft ist?“ – „Ja; Bruder und Schwester sein; zwei Seelen, die sich berühren, ohne eins zu werden, wie zwei Finger der Hand.“ – „Und die Liebe?“ „Oh, die Liebe“, sprach sie mit strahlenden Augen, „macht zwei zu einem; Mann und Frau, die in einen Engel zusammenschmelzen. Das ist der Himmel.“
Als die Straßentänzerin also sprach, strahlte sie in einer Schönheit, die auf Gringoire einen sonderbaren Eindruck machte und in genauer Beziehung zu dem fast orientalischen Schwunge ihrer Worte zu stehen schien. Auf ihren rosigen und reinen Lippen schwebte ein halbes Lächeln; ihre offene und heitere Stirn ward hin und wieder durch Gedanken umwölkt, gleich einem Spiegel, dessen Fläche der Atem trübt; und aus ihren langen gesenkten Wimpern schossen Strahlen unbeschreiblichen Lichtes hervor, das dem Profil die ideale Anmut erteilte, die Raffael später bis zum mystischen Durchschnittspunkte der Jungfräulichkeit, des mütterlichen Gefühls und der Gottheit darzustellen verstand.
Gringoire setzte dennoch seine Fragen fort. – „Wie muß man denn beschaffen sein, Euch zu gefallen?“ – „Man muß Mann sein.“ – „Bin ich’s nicht?“ – „Ein Mann trägt den Helm auf dem Haupte, das Schwert in der Faust, goldne Sporen an den Fersen.“ – „Gut; ohne Pferd kein Mann. Liebt Ihr jemanden?“ – Einen Augenblick saß sie schweigend da, dann sprach sie mit besonderem Ausdruck: „Bald werd’ ich’s wissen.“ – „Warum denn nicht jetzt, heute abend?“ fragte er zärtlich.
Sie warf ihm einen ernsten Blick zu. – „Ich werde nur einen Mann lieben, der mich beschützen kann.“
Gringoire errötete und fühlte sich getroffen. Das junge Mädchen spielte offenbar auf die geringe Hilfe an, die er im kritischen Augenblick vor zwei Stunden ihr hatte leisten können. Die durch so manche Abenteuer des Abends schon erloschene Erinnerung kehrte ihm wieder. Er schlug sich vor die Stirn.
„Ja, damit hätte ich beginnen müssen. Verzeiht meine törichte Zerstreuung. Wie konntet Ihr Quasimodos Klauen entschlüpfen?“ – „Oh! Der furchtbare Bucklige!“ rief sie nun, das Gesicht mit den Händen verhüllend. – „Ja, er ist furchtbar“, erwiderte Gringoire, „aber wie seid Ihr ihm entgangen?“ – Esmeralda lächelte, seufzte und schwieg. – „Wißt Ihr, warum er Euch folgte?“ begann Gringoire aufs neue, indem er auf seine Frage durch einen Umweg zurückzukehren suchte.
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