Nachdem er ihm für seine leutselige Aufnahme gedankt hatte, fing er an, ihm seine Verwunderung darüber zu bezeigen, daß ein Greis von seinen Jahren noch so gerade, so geschäftig, so lebhaft und so fähig sein könne, an den Vergnügungen des Lebens Anteil zu nehmen. ›Wenn deine silbernen Haare und dein eisgrauer Bart nicht von einem hohen Alter zeugten‹, setzte er hinzu, ›so müßte man dich für einen Mann von vierzig halten. Ich bitte dich, erkläre mir dieses Rätsel. Was für ein Geheimnis besitzest du, welches solche Wunder wirken kann?‹
›Ich kann dir mein Geheimnis mit drei Worten sagen‹, erwiderte der Alte lächelnd: ›Arbeit, Vergnügen und Ruhe, jedes in kleinem Maße, zu gleichen Teilen vermischt, und nach dem Winke der Natur abgewechselt, wirken dieses Wunder, wie du es zu nennen beliebst, auf die begreiflichste Weise von der Welt. Eine nicht unangenehme Mattigkeit ist der Wink, den uns die Natur gibt, unsre Arbeit mit Ergetzungen zu unterbrechen, und ein ähnlicher Wink erinnert uns von beiden auszuruhen. Die Arbeit unterhält den Geschmack an den Vergnügungen der Natur, und das Vermögen sie zu genießen; und nur derjenige, für den ihre reinen untadelhaften Wollüste allen Reiz verloren haben, ist unglücklich genug, bei erkünstelten eine Befriedigung zu suchen, welche sie ihm nie gewähren werden. Lerne an mir, werter Fremdling, wie glücklich der Gehorsam gegen die Natur macht. Sie belohnt uns dafür mit dem Genuß ihrer besten Gaben. Mein ganzes Leben ist eine lange, selten unterbrochne Kette von angenehmen Augenblicken gewesen; denn die Arbeit selbst, eine unsern Kräften angemessene und von keinen verbitternden Umständen begleitete Arbeit, ist mit einer Art von sanfter Wollust verbunden, deren wohltätige Einflüsse sich über unser ganzes Wesen verbreiten. Aber um durch die Natur glücklich zu sein, muß man die größte ihrer Wohltaten, die das Werkzeug aller übrigen ist, die Empfindung, unverdorben erhalten haben; und zum richtigen Empfinden ist richtig Denken eine unentbehrliche Bedingnis.‹
Der Alte sahe seinem Gast an der Miene an, daß er ihn nur mittelmäßig verstand. ›Ich werde dir vielleicht verständlicher sein‹, fuhr er fort, ›wenn ich dir die Geschichte unsrer kleinen Kolonie erzähle; denn in jeder andern Wohnung, wohin der Zufall dich in diesen Tälern hätte führen können, würdest du alles ungefähr eben so gefunden haben wie bei mir.‹ Der Emir bezeigte daß er ihm sehr gern zuhören wollte. Er hatte ein so ermüdetes Ansehen, daß ihm der mitleidige Alte den Vorschlag tat, sich auf einen Sofa in einem mit Zitronenbäumen umpflanzten Gartensaale niederzulassen; wiewohl ihm selbst ein Spaziergang unter den Bäumen angenehmer gewesen wäre.
Der Emir nahm dies Anerbieten willig an, und während eine schöne junge Sklavin sie mit dem besten Kaffe von Moka bediente, fing der muntre Greis seine Erzählung also an.
›Eine alte Überlieferung sagt uns, daß unsre Vorfahren von griechischer Abkunft gewesen, und durch einen Zufall, an dessen Umständen dir nichts gelegen sein kann, vor einigen Jahrhunderten in diese Gebirge geworfen worden. Sie pflanzten sich in diesen angenehmen Tälern an, welche die Natur dazu bestimmt zu haben scheint, eine kleine Anzahl von Glücklichen vor der Mißgunst und den ansteckenden Sitten der übrigen Sterblichen zu verbergen. Hier lebten sie, in zufriedener Einschränkung in den engen Kreis der Bedürfnisse der Natur, dem Anschein nach so armselig, daß selbst die benachbarten Beduinen sich um ihr Dasein wenig zu bekümmern schienen. Die Zeit löschte nach und nach den größten Teil der Merkmale ihres Ursprungs aus; ihre Sprache verlor sich in die arabische; ihre Religion artete in einige abergläubische Gebräuche aus, von welchen sie selbst keinen Grund anzugeben wußten; und von den Künsten, die der griechischen Nation einen unverlierbaren Rang über alle übrige gegeben haben, blieb ihnen nur die Liebe zur Musik, und ein gewisser angeborner Hang zum Schönen und zu geselligen Vergnügungen, welcher die Grundlage abgab, worauf der weise Gesetzgeber ihrer Nachkommen einen kleinen Staat von glückseligen Menschen aufzuführen wußte. Begierig, die Schönheit der Formen unter sich zu verewigen, machten sie sich zu einem Gesetze, nur die schönsten unter den Töchtern des benachbarten Yemen unter sich aufzunehmen; und dieser Gewohnheit (welche unser Gesetzgeber würdig gefunden hat, ihr die Heiligkeit einer unverletzlichen Pflicht zu geben) ist es ohne Zweifel beizumessen, daß du in allen unsern Tälern keine Person weder von unserm noch vom andern Geschlechte finden wirst, welche nicht jenseits der Gebirge für eine seltene Schönheit gelten sollte.
Zu den Zeiten meines Großvaters kam der vortreffliche Mann, dem wir unsre dermalige Verfassung zu danken haben, der zweite und eigentliche Stifter unsrer Nation, durch eine Kette von Zufällen in diese Gegend. Wir wissen nichts, weder von seiner Abkunft, noch von den Begebenheiten seines Lebens vor dem Zeitpunkte da er zu uns kam. Er schien damals ein Mann von funfzig Jahren zu sein; er war lang, von majestätischer Gestalt, und von so einnehmendem Bezeigen, daß er in kurzer Zeit alle Herzen gewann. Er hatte so viel Gold mit sich gebracht, daß es einem jeden in die Augen fallen mußte, er habe keine andre Ursache unter uns zu leben, als weil es ihm bei uns gefiel. Das Sanfte und Gefällige seiner Sitten, die ungekünstelte Weisheit seiner Gespräche, die Kenntnisse, die er von tausend nützlichen und angenehmen Dingen hatte, verbunden mit einer Beredsamkeit, die auf eine unwiderstehliche Art sich in die Seelen einstahl, gaben ihm nach und nach ein unbegrenzteres Ansehen unter uns, als ein Monarch über seine angebornen Untertanen zu haben pflegt. Er fand unsre kleine Nation fähig, glücklich zu sein;›und Menschen‹, sagte er zu sich selbst, ›welche etliche Jahrhunderte sich an dem Unentbehrlichen begnügen lassen konnten, verdienen es zu sein: ich will sie glücklich machen.‹ Er verbarg sein Vorhaben eine geraume Zeit, weil er weislich glaubte, daß er die ersten Eindrücke durch sein Beispiel machen müsse. Er pflanzte sich unter uns an, lebte in seinem Hause so, wie du uns hast leben gesehen, machte unsre Leute mit Bequemlichkeiten und Vergnügungen bekannt, die ihre Begierden reizen mußten, und kaum ward er gewahr daß er diesen Zweck erhalten habe, so legte er die Hand an seinen großen Entwurf. Ein Freund, der ihn begleitet hatte und von allen schönen Künsten in einem hohen Grade der Vollkommenheit Meister war, half ihm die Ausführung beschleunigen. Viele von unsern Jünglingen, nachdem sie die nötige Vorbereitung von ihnen erhalten hatten, arbeiteten unter ihrer Aufsicht mit unbeschreiblicher Begeisterung. Wilde Gegenden wurden angebaut; künstliche Wiesen und Gärten voll fruchttragender Bäume blühten in Gegenden hervor, die mit Disteln und Heidekraut bedeckt gewesen waren; und Felsen wurden mit neu gepflanzten Weinreben beschattet. Mitten auf einer kleinen Anhöhe, die das schönste unsrer Täler beherrscht, stieg ein runder auf allen Seiten offner Tempel empor, in dessen Mitte nichts als eine Estrade, um drei Stufen höher als der Fußboden, und auf diesen drei Bilder von weißem Marmor zu sehen waren; Bilder, die man ohne Liebe und sanftes Entzücken nicht ansehen konnte. Ein Hain von Myrten zog sich in einiger Entfernung um den kleinen Tempel, und bedeckte die ganze Anhöhe. Dieses letzte Werk war allen unsern Leuten ein Rätsel, und Psammis (so nannte sich der wunderbare Fremdling) verzog so lange, ihnen die Auflösung davon zu geben, bis er merkte, daß alle die zärtliche Ehrerbietung, die sie für ihn empfanden, nicht länger vermögend war, ihre Ungeduld zurück zu halten.
Endlich führte er am Morgen eines schönen Tages, welcher seitdem der heiligste unsrer festlichen Tage ist, eine Anzahl der Unsrigen, die er als die geschicktesten zu seinem Vorhaben ausgewählt hatte, auf die Anhöhe, setzte sich mit ihnen unter die Myrten, und gab ihnen zu erkennen: Daß er in keiner andern Absicht zu ihnen gekommen sei, als sie und ihre Nachkommen glücklich zu machen; daß er keine andre Belohnung dafür erwarte, als das Vergnügen, seine Absicht erreicht zu haben; und daß er keine andre Bedingung von ihnen fordere, als ein feierliches Gelübde, die Gesetze unverbrüchlich zu halten, die er ihnen geben würde. ›Es würde zu weitläuftig sein‹, fuhr der Alte fort, ›dir zu erzählen, was er sagte um seine Zuhörer zu überzeugen, und was er tat um sein angefangenes Werk auszuführen, und ihm alle die Festigkeit zu geben, welche ein auf die Natur gegründeter Entwurf durch weise Vorsicht erhalten kann. Eine Probe seiner Sittenlehre, die den ersten Teil seiner Gesetzgebung ausmacht, wird hinlänglich sein, dir davon einigen Begriff zu geben.
Jeder von uns empfängt beim Antritt seines vierzehnten Jahres, an dem Tage, da er in dem Tempel der Huldgöttinnen das Gelübde tun muß, der Natur gemäß zu leben, einige Täfelchen aus Ebenholz, auf welchen diese Sittenlehre mit goldnen Buchstaben geschrieben ist.
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