Jede harmonische Bewegung unsers Körpers, jede sanfte Empfindung der Freude, der Liebe, der zärtlichen Sympathie verschönert uns; jede allzu heftige oder unordentliche Bewegung, jede ungestüme Leidenschaft, jede neidische und übeltätige Gesinnung verzerrt unsre Gesichtszüge, vergiftet unsern Blick, würdiget die schöne menschliche Gestalt zur sichtbaren Ähnlichkeit mit irgend einer Art von Vieh herab. So lange Güte des Herzens und Fröhlichkeit die Seele eurer Bewegungen bleiben, werdet ihr die schönsten unter den Menschenkindern sein.

Das Ohr ist, nach dem Auge, der vollkommenste unsrer Sinne. Gewöhnet es an kunstlose, aber seelenvolle Melodien, aus welchen schöne Gefühle atmen, die das Herz in sanfte Bebungen setzen, oder die einschlummernde Seele in süße Träume wiegen. Freude, Liebe, und Unschuld stimmen den Menschen in Harmonie mit sich selbst, mit allen guten Menschen, mit der ganzen Natur. So lang euch diese beseelen, wird jede eurer Bewegungen, der gewöhnliche Ton eurer Stimme, eure Sprache selbst wird Musik sein.

Psammis hat euch neue Quellen angenehmer Empfindungen mitgeteilt: durch ihn genießet ihr, von der täglichen Arbeit ermüdet, einer wollüstigen Ruhe; durch ihn ergetzen liebliche Früchte, in diesen fremden Boden verpflanzt, euern Gaumen; durch ihn begeistert euch der Wein, zu höherer Fröhlichkeit, zu offenherzigem Geschwätze und geistreichem Scherz, ohne welche dem geselligen Gastmahle seine beste Würze fehlt. In der Liebe, die ihr nur unter der niedrigen Gestalt des Bedürfnisses kanntet, hat er euch die Seele des Lebens, die Quelle der schönsten Begeisterung und der reinsten Wollust des Herzens bekannt gemacht. O meine Kinder! welche Lust, welches angenehme Gefühl sollt ich euch versagen? Keines, gewiß keines das euch die Natur zugedacht hat! Ungleich den schwülstigen Afterweisen, welche den Menschen zerstören wollen, um – eitles lächerliches Bestreben! – einen Gott aus seinen Trümmern hervor zu ziehen! Ich empfehle euch die Mäßigung; aber aus keinem andern Grunde, als weil sie unentbehrlich ist, euch vor Schmerzen zu bewahren, und immer zur Freude aufgelegt zu erhalten. Nicht aus Nachsicht gegen die Schwachheit der Natur erlaub ich, – nein, aus Gehorsam gegen ihre Gesetze befehl ich euch, eure Sinne zu ergetzen. Ich habe den betrüglichen Unterschied zwischen nützlich und angenehm aufgehoben: ihr wisset, daß nichts den Namen eines Vergnügens verdient, was mit dem Schmerz eines andern, oder mit später Reue bezahlt wird; und daß das Nützliche nur nützlich ist, weil es uns vor Unlust bewahrt, oder eine Quelle von Vergnügen ist. Ich habe den törichten Gegensatz der verschiedenen Arten der Lust vernichtet, und eine ewige Eintracht zwischen ihnen hergestellt, indem ich euch den natürlichen Anteil gelehrt habe, den das Herz an jeder sinnlichen Lust, und die Sinne an jedem Vergnügen des Herzens nehmen. Ich habe eure Freuden vermehrt, verfeinert, veredelt – Was kann ich noch mehr tun?

Noch eines, und das wichtigste von allem. Lernet, meine Kinder, die leichte Kunst, eure Glückseligkeit ins Unendliche zu vermehren; das einzige Geheimnis, sie so nah als möglich der Wonne der Götter, und, wenn es erlaubt wäre so kühn zu denken, der Wonne des Urhebers der Natur selbst zu nähern! –

Erstrecket euer Wohlwollen auf die ganze Natur; liebet alles, was ihr allgemeinstes Geschenk, das Dasein, mit euch teilet!

Liebet einen jeden, in welchem ihr die ehrwürdigen Kennzeichen der Menschheit erblicket, sollten es auch nur ihre Ruinen sein.

Freuet euch mit jedem der sich freuet; wischet die Tränen der Reue von den Wangen der bestraften Torheit, und küsset aus den Augen der Unschuld die Tränen des Mitleidens mit sich selbst.

Vervielfachet euer Wesen, indem ihr euch gewöhnet in jedem Menschen das Bild euerer eigenen Natur und in jedem guten Menschen ein andres Selbst zu lieben.

Schmecket so oft ihr könnt das reine göttliche Vergnügen andre glücklicher zu machen; – und du, Unglückseliger, dem von diesem bloßen Gedanken das Herz nicht zu wallen anfängt, fliehe, fliehe auf ewig aus den Wohnungen der Kinder der Natur!‹«

Schach-Gebal war über der Sittenlehre des weisen Psammis unvermerkt so gut eingeschlafen, daß die schöne Nurmahal für ratsam hielt, die Fortsetzung der Geschichte des Emirs auf die künftige Nacht auszusetzen.

 

5.

 

»Die Sittenlehre deines – wie heißt er? ist eine vortreffliche Sittenlehre«, sagte der Sultan zu Danischmenden: »ich habe gut auf sie geschlafen! Aber itzt würdest du mir, weil ich noch keine Lust zu schlafen habe, einen Gefallen tun, wenn du deine Erzählung ohne weitere Sittenlehre zu Ende bringen wolltest.«

Danischmend antwortete wie es einem demütigen Sklaven zusteht, und setzte seine Erzählung also fort.

»›Dieses‹, sagte der Alte, indem er seine Täfelchen wieder zusammen legte, ›sind die Grundsätze, nach welchen wir leben. Wir ziehen sie, so zu sagen, mit der Milch unsrer Mütter ein, und durch Beispiel und Gewohnheit müßten sie uns zur andern Natur werden, wenn sie auch an sich selbst der Natur nicht so ganz gemäß wären als sie es sind. Kannst du dich nun noch länger wundern, daß ich in einem Alter von achtzig Jahren fähig bin meinen Anteil an den Vergnügungen des Lebens zu nehmen? daß mein Herz und meine Sinne noch jedem sanften Gefühl offen stehen, meine Augen noch immer gern auf schönen Formen verweilen; und daß, wenn auch die Natur meinem Alter Freuden versagt, die ich weder verachte noch vermisse, ich zufrieden bin diejenigen zu genießen, welche sie mir gelassen hat; kurz, daß der letzte Teil meines Lebens dem Abend einer schönen Nacht ähnlich ist, und ich wenigstens in diesem Stücke dem Weisen gleiche, der (um den Ausdruck unsers Gesetzgebers zu wiederholen) den Becher der reinen Wollust bis auf den letzten Tropfen ausschlürft: und, ich schwöre bei diesem alles beleuchtenden Auge der Natur, unsrer allgemeinen Mutter, daß ich mit dem letzten Atemzuge, wenn ich anders noch die Kraft dazu habe, den letzten Tropfen davon auf meinen Nagel sammeln und hinunter schlürfen will!‹

Der alte Mann sagte dies mit einem so angenehm auflodernden Feuer, daß der Emir darüber lächeln mußte; aber es war zu viel Neid und Unmut unter dieses Lächeln gemischt, als daß sein Gesicht in den Augen einer Tochter der Natur viel dabei gewonnen hätte.

›Den übrigen Teil unsrer Gesetzgebung‹, fuhr der Alte fort, ›welcher unsre Polizei betrifft, werde ich dir am besten durch eine Beschreibung unsrer Lebensart und unsrer Sitten begreiflich machen. Unsre kleine Nation, welche ungefähr aus fünfhundert Stammfamilien besteht, lebt in einer vollkommenen Gleichheit; indem wir keines andern Unterschiedes bedürfen, als den die Natur selbst, die das Mannigfaltige liebt, unter den Menschen macht. Die Liebe zu unsrer Verfassung, und die Ehrerbietung gegen die Alten, welche wir als die Bewahrer derselben ansehen, ist hinlänglich, Ordnung und Ruhe, die Früchte übereinstimmender Grundsätze und Neigungen, unter uns zu erhalten. Wir betrachten uns alle als eine einzige Familie, und die kleinen Mißhelligkeiten, die unter uns entstehen können, sind den Zänkereien der Verliebten oder einem vorüber gehenden Zwiste zärtlicher Geschwister ähnlich. Unsre Festtage sind die einzigen Gerichtstage, die wir kennen; unser ganzes Volk versammelt sich dann vor dem Tempel der Huldgöttinnen, und unter ihren Augen werden von unsern Ältesten alle Händel beigelegt, und alle gemeinschaftliche Abredungen genommen.

Wir nähren und bekleiden uns von unsern eigenen Produkten, und das Wenige, was uns abgeht, tauschen wir von den benachbarten Beduinen gegen unsern Überfluß ein. Unsrer Jugend überlassen wir die Sorge für die Herden. Vom zwölften bis zum zwanzigsten Jahre sind alle unsre Knaben Hirten, alle unsre Mädchen Schäferinnen, denn der weise Psammis urteilte, daß dieses die natürlichste Beschäftigung für das Alter der Begeisterung und der empfindsamen Liebe sei. Der Ackerbau beschäftigt die Männer vom zwanzigsten bis zum sechzigsten Jahre; und die Gärtnerei ist den Alten überlassen, welche darin von den Jünglingen der mühsamsten Arbeiten überhoben werden. Der Seidenbau, die Verarbeitung der Baumwolle und Seide, die Wartung der Blumen, und die ganze innere Haushaltung gehört unsern Frauen und Töchtern zu. Jede Familie lebt so lange beisammen, als die gemeinschaftliche Wohnung sie fassen und das väterliche Gut sie ernähren kann. Geht dieses nicht mehr an, so wird eine junge Kolonie errichtet, die sich in einem benachbarten Tale anpflanzt. Denn die Araber (deren Schutz wir mit einem mäßigen Tribut erkaufen, und welche die Natur in uns um so mehr zu ehren scheinen, als es ihnen wenig nützen würde uns auszurotten) haben uns einen größern Umfang von Land überlassen, als wir in etlichen Jahrhunderten bevölkern werden. Unser Gesetzgeber urteilte mit gutem Grunde, daß es zu Erhaltung unsrer Verfassung nötig sei, immer ein kleines Volk zu bleiben. Er verordnete deswegen, von Zeit zu Zeit eine Prüfung mit unsern Jünglingen vorzunehmen, und diejenigen, an denen sich ungewöhnliche Fähigkeiten, ein unruhiger Geist, eine Anlage zu Ruhmbegierde, oder auch nur ein bloßes Verlangen die Welt zu sehen, äußern würde, von uns zu tun, und jenseits der Gebirge in irgend eine Hauptstadt von Ägypten, Syrien, Yemen oder Persien zu schicken, wo sie leicht Gelegenheit finden würden, ihre Talente zu entwickeln und ihr Glück zu machen, wie man bei diesen Völkern zu reden pflegt. Wir verlieren auf diese Weise alle zehen Jahre eine beträchtliche Anzahl von jungen Leuten; aber oft begegnet es auch, daß sie, wenigstens im Alter, wieder kommen, um das Ende ihres Lebens in der einzigen Freistätte, welche die schöne Natur vielleicht auf dem ganzen Erdboden hat, zu beschließen; und wenn sie eine sehr scharfe Art von Quarantäne ausgehalten haben, und wir versichert sind, daß die Gesundheit unsrer Seelen und Leiber nichts von ihnen zu besorgen hat, werden sie mit Vergnügen aufgenommen. Verschiedene von ihnen haben beträchtliche Reichtümer mit sich gebracht, welche an einem unserm ganzen Volke bekannten und offen stehenden Orte zu gemeinen Bedürfnissen auf künftige Fälle aufbehalten werden, ohne daß jemand daran denken sollte, sich etwas von demjenigen zueignen zu wollen, was allen angehört. Unsre Kinder werden vom dritten bis zum achten Jahre größten Teils sich selbst, das ist, der Erziehung der Natur überlassen.