Natürlicher Weise konnte diese Einrichtung der Sachen von keiner langen Dauer sein. Das System änderte sich, so wie die geheimen und unermüdeten Bewegungen der Regiersucht und des Eigennutzes eine Verwechselung der Personen veranlaßte. Es begegnete also, zum Beispiel, daß die besagten Pflichten zwischen der Königin-Mutter und einer Mätresse des Königs geteilt wurden; die Mätresse übertrug alsdann ihren Anteil an ihre erste Kammerfrau; diese an ihren Liebhaber; der Liebhaber an seinen vertrautesten Diener, und so fort; und was man von allen diesen Veränderungen am gewissesten sagen konnte, war, daß der Staat gemeiniglich mehr dabei verlor als gewann.«
»Ich bin zwar bereits über zwanzig Jahre Sultan«, sagte hier Schach-Gebal lächelnd: »aber ich möchte doch bei dieser Gelegenheit gerne von dir hören, Danischmend, was ihr andern weisen Leute unter den Pflichten eines Königs versteht.«
»Sire«, versetzte Danischmend, »ich habe dazu nichts anders vonnöten, als alles das Rühmliche, was Ihre Majestät getan haben, in allgemeine Sätze zu verwandeln« – – – –
»Keine Komplimente, ein für allemal!« sagte der Sultan. »Eure Gedanken von der Sache, mit Vorbehalt meiner Freiheit davon zu denken was mir belieben wird!«
»Die Pflichten eines Königs also, sind:
Einem jeden sein Recht so bald und so wohlfeil als möglich widerfahren zu lassen, und alle Ungerechtigkeiten, die er nicht verhindern kann, zu bestrafen;
die tauglichsten Personen zu den öffentlichen Ehrenstellen und Ämtern zu befördern;
die Verdienste zu belohnen;
die Staatseinkünfte weislich anzuwenden;
und seinen Völkern sowohl innerliche Ruhe als Sicherheit vor auswärtigen Feinden zu verschaffen.
In so fern alle diese Pflichten wirklich erfüllt werden (setzt man hinzu), kann es dem Staate gleichgültig sein, ob sie der König durch sich selbst oder durch andere ausübet; genug daß er der erste Beweger aller Triebfedern desselben ist. Indessen hat es doch zu allen Zeiten Fürsten gegeben, welche durch ihr Beispiel diese Pflichten um ein Namhaftes erschwert haben. Sie glaubten ihrem Amte nicht anders genug tun zu können, als indem sie, mit Hülfe der Weisesten und Besten ihres Volkes, selbst an dem allgemeinen Wohlstande arbeiteten. Sie strebten hierin nach Erreichung eines gewissen Ideals, welches sie sich in ihrem Geiste entworfen hatten, und glaubten nicht eher glücklich zu sein, bis sie sich selbst mit einem hohen Grade von Gewißheit sagen könnten: Nun ist unter allen den Myriaden oder Millionen, deren Glück mir anvertraut ist, kein einziger, der durch meine Schuld, durch irgend eine meiner Leidenschaften, oder nur durch meine Nachlässigkeit unglücklich wäre. Sie begriffen unter dem Umfang ihrer Pflichten – eine auf die Grundregeln der Natur und die Bedürfnisse und Umstände ihres Staats gebaute Gesetzgebung; eine väterliche unmittelbare Fürsorge für die Pflanzschulen des Staats; eine zur möglichsten Vollkommenheit gebrachte Polizei; eine gerechte Schätzung und tätige Beförderung der Wissenschaften und der Künste, welche die Sitten und das Leben verschönern. Sie ließen sich nicht daran genügen, gleich den alten Königen Persiens, Augen und Ohren zu bestellen, die in ihrem Namen sehen und hören sollten: sie hielten es für ihre Schuldigkeit, mit ihren eigenen Augen zu sehen, und, damit sie recht sehen könnten, von allem, was ihrem Urteil unterworfen wurde, sich die nötigen Kenntnisse zu erwerben; einen jeden selbst anzuhören; jeden Entwurf einer Verbesserung oder nützlichen Unternehmung selbst zu prüfen; die Ausführung durch ihre eigene Gegenwart zu beleben; alles Gute, das sie tun konnten, wirklich zu tun; alles Böse, das sie verhindern konnten, wirklich zu verhindern ; kurz, sie begriffen so viele und mühsame Arbeiten unter dem was sie ihre Pflicht nannten, daß nur eine heroische Tugend vermögend sein kann, einen Sterblichen zu Annehmung einer Krone, unter solchen Bedingungen, zu bewegen, wenn es anders in seiner Willkür steht, sie anzunehmen oder auszuschlagen.«
»Vergiß nicht, Danischmend«, sagte der Sultan, nachdem er zweimal hinter einander gegähnt hatte, »mir morgen bei meinem Aufstehen ein Verzeichnis der sämtlichen morgen- und abendländischen Könige vorzulegen, auf welche du in dieser Beschreibung gezielt hast.«
»Das Gedächtnis Ihrer Majestät wird durch die Zahl nicht überladen werden«, versetzte Danischmend.14
»Das dacht ich wohl«, sprach der Sultan: »aber desto besser! ich liebe eine ausgesuchte Gesellschaft. – Um Vergebung, Nurmahal, Sie sollen heute nicht wieder unterbrochen werden.«
»Sire«, fuhr die Dame fort, »es ist bei dieser Bewandtnis leicht zu erachten, wie gut die Pflichten des königlichen Amtes unter der Regierung des liebenswürdigen Azors versehen wurden. Er selbst konnte keine Kenntnis davon haben. Er wußte zwar in der äußersten Vollkommenheit, was zur Anordnung eines prächtigen Festes gehörte, welches er einer Geliebten geben wollte: aber wie hätte er wissen können, was zur Anordnung eines großen Staates, zur Besorgung seiner Bedürfnisse, zur Befestigung seiner Sicherheit, zur Bewirkung seines allgemeinen Wohlstandes erfodert wird? Die Natur bildet (ordentlicher Weise wenigstens) keine Fürsten; dies ist ein Werk der Kunst, und ohne Zweifel ihr höchstes und vollkommenstes Werk: aber man hatte sich begnügt den guten Azor zu einem liebenswürdigen Edelmanne zu bilden. Da er also genötigt war, seine wichtigsten Geschäfte andern zu übertragen, und da es unmöglich ist, ohne die Kenntnisse, welche ihm mangelten, eine gute Wahl zu treffen: wie konnte sich Azor, jung und unerfahren wie er war, anders helfen, als sie denjenigen zu überlassen, von denen er am günstigsten dachte, weil sie die meiste Gewalt über sein Herz hatten?15 Zum Unglück befanden sich diese in den nämlichen Umständen wie er selbst. Sie behielten also nur den leichtesten und angenehmsten Teil davon, die Ausübung einer willkürlichen Gewalt, für sich selbst, und überließen das übrige wieder an andere; und so geschah es sehr oft, daß die wichtigsten Angelegenheiten das Schicksal hatten, nach dem Gutachten eines unwissenden Bonzen, oder eines Kammerdieners, oder einer jungen, grillenhaften Schönen, oder (welches mehr als Einmal geschehen sein soll) durch den Einfall eines – Hofnarren entschieden zu werden.
Die Folgen dieser Staatsverwaltung waren so betrübt als man sich vorstellen kann. Die wichtigsten Stellen wurden nach und nach mit untauglichen Personen besetzt; die Gerechtigkeit anfangs heimlich verhandelt, und zuletzt öffentlich feil geboten; unter ihrem Namen triumphierte die Schikane; die öffentlichen Einkünfte wurden verschwendet, und die Forderungen unersättlicher Günstlinge unter die Rubrik der Staatsbedürfnisse gebracht. Alle die höhern und mühseligern Pflichten der Regierung, deren Ausübung mit keinem unmittelbaren Privatvorteil verknüpft war, wurden vernachlässiget. Das Laster, welches sich den Schutz der Großen zu verschaffen wußte, blieb unbestraft; ja es wurde nicht selten unter dem Titel des Verdienstes noch durch Belohnung aufgemuntert. In der Tat wird man wenig Regierungen finden, wo die Verdienste so häufig und so übermäßig belohnt worden wären als in dieser. Aber man wunderte sich eine lange Zeit, wie es zugehe, daß sich diese Verdienste immer nur bei den Angehörigen oder Freunden der Günstlinge fänden; man wunderte sich noch mehr, wie es zugehe, daß die Nation durch lauter Leute von Verdiensten zu Grunde gerichtet werde; und nur eine kleine Anzahl von spekulativen Leuten begriff, daß in allem diesem gar nichts sei, worüber man sich zu wundern habe.«
Da der Sultan hier zum dritten Male gähnte, so wurde die Vorlesung durch einen geschickten Übergang zu einem angenehmern Gegenstande abgebrochen, wovon es dem sinesischen Autor nicht beliebt hat uns Nachricht zu erteilen.
8.
»Inzwischen lebte der junge König Azor einige Jahre so glücklich als Jugend, blühende Gesundheit und unumschränkte Macht einen Sterblichen machen können, der seine Glückseligkeit in einer immer währenden Berauschung der Seele, in den ausgesuchtesten Wollüsten der Sinne, der Einbildung und des Herzens findet. Azor liebte das Vergnügen über alles; aber sein edles und gefühlvolles Herz liebte auch es auszubreiten, und wenn er sich selbst glücklich fühlte, so wollte er so weit als sein Gesichtskreis sich erstreckte, lauter Glückliche um sich sehen.
Drei oder vier Jahre gingen auf diese Weise in einer ununterbrochenen Kette von Festen und Ergetzungen vorüber, in welchen Witz und Kunst alle ihre Kräfte zusammen setzten, die kleine Anzahl angenehmer Rührungen, deren die sparsame Natur den Menschen fähig gemacht hat, ins unendliche zu verändern, zu vervielfältigen, zu vermischen, zu erhöhen, und durch tausend geschickt verborgene Handgriffe diese angenehmen Täuschungen hervorzubringen, die den Überdruß betrügen, und die Seele in einem Wirbel von Freuden so schnell herum drehen, daß ihr nicht so viel Macht über sich selbst bleibt, Betrachtungen über das was in ihr vorgeht, und über den Wert der Gegenstände, in deren angenehmer Gewalt sie ist, anzustellen. Man glaubt neue Sinne zum Gefühl des Vergnügens zu bekommen, mit jedem Tage zu einem neuen wollüstigern Dasein hervor zu gehen; und man wird nicht eher gewahr, daß man sich unter einer Art von Bezauberung und außerhalb des angewiesenen Kreises der natürlichen Wirksamkeit befindet, bis Erschöpfung der Lebensgeister, Erschlaffung der Sinne, oder noch empfindlichere Folgen einer wollüstigen Unmäßigkeit, die Seele aus ihrem süßen Taumel wecken, um sie dem Gefühl einer unerträglichen Leerheit und einer Reihe unangenehmer Betrachtungen zu überliefern, welche auf den Weg der Weisheit führen könnten, wenn die Gewohnheit uns nicht bald wieder mit mechanischer Gewalt zu eben diesen Gegenständen und Vergnügungen zurück zöge, deren betrügliche Beschaffenheit wir vergebens erfahren haben, weil sie sich nur unter einer neuen Gestalt zeigen dürfen, damit wir uns aufs neue von ihnen betrügen lassen.«
»Madam«, sagte der Sultan, »pflegt man das, was Sie uns eben itzt mit dem melodiösesten Akzent von der Welt vorgelesen haben, nicht eine Tirade zu nennen? Was es auch für einen Namen haben mag, so erkläre ich hiermit, daß ich nur ein sehr mittelmäßiger Liebhaber davon bin. Ich bin zwar der Moral nie so gram gewesen als mein werter Oheim Schach-Baham, glorreichen Gedächtnisses: aber gleichwohl werden Sie mich verbinden, wenn Sie künftig alle Deklamationen dieser Art, denen Ihr Autor aus einem Naturfehler ziemlich häufig unterworfen zu sein scheint, ohne die mindeste Furcht daß ich etwas dabei verlieren möchte, überhüpfen werden. Ich kann nichts in diesem Geschmacke lesen oder hören, ohne daß ich stracks meinen Iman mit seinen aufgezogenen Augenbraunen und blasenden Backen vor mir stehen sehe. Es ist unangenehm, daß unsre Schriftsteller noch immer den rechten Ton so gern verfehlen, und uns aufgedunsene Perioden, worin irgend ein alltäglicher Gedanke in einem gothischen Putz von schallenden Worten und rednerischen Figuren strotzt, für Philosophie verkaufen wollen.«
Nurmahal, nachdem sie vor diesem schlimmen Geschmacke sich sorgfältig zu hüten versprochen hatte, setzte ihre Erzählung also fort.
»Es war ein Unglück für Scheschian, daß die reizende Xerika, auf welche die erste Neigung des jungen Königs fiel, von derjenigen Art von Seelen war, welche die Natur ausdrücklich für die Liebe und für sie allein gebildet zu haben scheint. Das Herz Azors, wär er auch ein bloßer Schäfer gewesen, war das einzige, was einen Wert in ihren Augen hatte; sie war lauter Empfindung, aber nur für ihn; ihn glücklich zu machen war ihr einziger Wunsch, ihr einziger Stolz, ihr einziger Gedanke. Auch war er's, so lange die Bezauberung der ersten Liebe dauern kann, in einem so hohen Grade, daß, wenn er in irgend einer einsamen Laube zu ihren Füßen lag, und mit dem Kopf auf ihren Schoß zurück gelehnt seine gierigen Blicke in ihren in Liebe schwimmenden Augen weiden ließ,16 der gute König seiner Krone und aller Kronen des Erdbodens, mit allen davon abhangenden Rechten und Pflichten, so gänzlich vergaß, als ob diese Laube die ganze Welt, und Xerika nebst ihm selbst die einzigen Bewohner derselben gewesen wären. Die Geschäfte der Regierung, und dasjenige, was man die Austeilung der Gnaden nannte, befanden sich also in den Händen eines Günstlings der Sultanin Lili, durch welchen sie wieder stufenweise in so viele andere Hände gespielt wurden, daß (wenn man den geheimen Nachrichten von dieser Regierung glauben darf) sogar Komödianten und Tänzerinnen zu gewissen Zeiten wichtige Personen auf dem Staatstheater von Scheschian vorgestellt haben sollen.«
»Um Vergebung, daß ich Sie schon wieder unterbrechen muß«, sagte der Sultan: »was war das, was man an diesem so wohl eingerichteten Hofe die Austeilung der Gnaden nannte?«
»Sire«, antwortete Nurmahal, »es war schon unter den vorigen Regierungen unvermerkt zur Gewohnheit geworden, alle Arten von Ämtern und Bedienungen, mit welchen Ansehen, Gewalt und Einkünfte verbunden waren, nach Gunst und Gefallen auszuteilen. Man pflegte daher die Besetzung einer solchen Stelle eine Gnade zu nennen. Nach und nach erweiterte sich die Bedeutung des Wortes, und es kam zuletzt so weit, daß aller Begriff von Verdienst dadurch verdrängt, und sogar ein Künstler oder Kaufmann, welcher für gelieferte Arbeit oder Waren eine Forderung zu machen hatte, seine Bezahlung, nach tausend mühseligen Weitläufigkeiten und Verzögerungen, durch geheime Ränke, und mit Aufopferung eines beträchtlichen Teils der Forderung, als eine Gnade nachzusuchen genötiget wurde. Es gab zwar schon damals Leute, welche behaupteten: Ein König von Scheschian habe so viel zu tun, einem jeden das Seine zu geben, daß ihm wenig oder keine Gnaden zu erteilen übrig blieben; jede Ehrenstelle oder Bedienung erfodre gewisse Talente und Tugenden, und müsse also mit demjenigen besetzt werden, welcher die größten Proben gegeben habe, daß er diese Talente und diese Tugenden besitze; ja, der König sei nicht einmal berechtiget, die Pensionen, welche aus dem öffentlichen Schatze bewilliget würden, als Gnaden anzusehen, weil der öffentliche Schatz zu Bestreitung derjenigen Ausgaben geheiliget sein müsse, welche die Ausübung des königlichen Amtes notwendig macht; kurz, der König habe keine Gnaden auszuteilen als aus seinem eigenen Beutel; und alles Gute, was er als König tue, fließe aus einer eben so verbindlichen Schuldigkeit ab, als diejenige sei, vermöge welcher die Untertanen ihm Ehrfurcht und Gehorsam zu beweisen, und nach Verhältnis ihres Vermögens ihren Anteil zu den Einkünften der Krone beizutragen schuldig seien – allein diejenigen, welche dergleichen Sätze vorbrachten, hätten eben so wohl getan sie für sich selbst zu behalten; denn sie wurden nicht gehört, und der Hof erhielt sich im Besitze, alles was er tat so sehr aus Gnade zu tun, daß, wie gesagt, das Wort Verdienst in seiner eigentlichen Bedeutung zu den verhaßten Wörtern herab sank, welche aus der Sprache der guten Gesellschaft verbannt waren; und daß es niemals anders gebraucht wurde, als, um diejenigen Eigenschaften oder Verhältnisse zu bezeichnen, wodurch man das Glück hatte, den Personen, welche Gnaden austeilen konnten, angenehm zu sein.
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