Azor hatte den Vorteil, mit der Geographie seines Reichs so wenig bekannt zu sein, daß er nichts verloren zu haben glaubte. Man versicherte ihn, die Provinz, die er abtrat, koste mehr zu erhalten als sie wert sei; und alle Hofbonzen und Hofpoeten wurden dazu gedungen, die uneigennützige Großmut des Königs und sein väterliches Mitleiden mit seinem Volke in die Wette zu preisen, und zu einer Heldentugend zu erheben, welche die Taten der größten Eroberer verfinstre.«
»Nach diesen Proben von eurem guten König Azor zu urteilen«, sprach der Sultan, »ist das gelindeste was man von ihm sagen kann, daß er zu einem sehr schwachen Herzen einen noch schwächern Kopf gehabt haben müsse. Ich meines Orts gestehe, daß ein Fürst, der seinen Namen zu den Übeltaten seiner Lieblinge herleiht, ein verächtliches Geschöpf in meinen Augen ist; und ich sehe gar nicht, warum man ihm die Ehre erweisen soll, ihn gut zu nennen, wenn seine Völker bei aller seiner Güte sich nicht besser befinden als sie tun würden, wenn er ein Tyrann wäre.«
»Sire«, erwiderte die schöne Nurmahal, »erlauben Sie mir zu sagen, daß Sie ein wenig zu strenge mit dem guten König Azor verfahren. Er war wirklich einer der liebenswürdigsten Prinzen seiner Zeit. Es mangelte ihm weder an Geist noch an Geschmack, und man hat eine Menge kleiner Anekdoten von ihm, welche das edelste und gütigste Herz beweisen. Eine unglückliche Erziehung« –
»Um Vergebung, Madam«, fiel ihr der Sultan in die Rede: »ich wollte nicht gern, daß man den Fürsten diese Entschuldigung gelten ließe. Die Erziehung der Personen, die zum Throne geboren werden, ist selten so gut als es zu wünschen wäre; und nach Ihrem Grundsatze hätten immer fünfundneunzig von hundert meinesgleichen ein Privilegium, so übel zu regieren, als es ihren Weibern, ihren Bedienten und dem Zufalle belieben möchte. Soll ich euch sagen, wie ich selbst erzogen worden bin? Beim Barte des Propheten! wenn jemals ein Sultan berechtiget war keinen Menschenverstand zu haben, so bin ich's. Weil wir hier unter uns sind, so will ich mir doch das Vergnügen machen, euch ein oder zwei Kapitel aus der Geschichte meiner Jugend zu erzählen.
Mein Oheim Schach – Baham – Friede sei mit seinem Staube! – vertraute meine Erziehung einem seiner Verschnittenen an, unter dessen Aufsicht ein gewisser Fakir, der löblichen Gewohnheit zu Folge, mich so gelehrt machen sollte, als Schach-Baham glaubte, daß der Sohn des jüngern Bruders eines regierenden Sultans zu sein nötig habe. Ich erinnere mich noch so lebhaft als ob es erst heute geschehen wäre, wie vergnügt der gute Oheim Baham war, als ich es in der Mathematik und Physik so weit gebracht hatte, den Mechanismus der bewundernswürdigen Erfindung seines Freundes des Königs Strauß, den fliegenden Drachen, mit Hülfe einer Menge fürchterlicher Kunstwörter, von denen er nichts verstand, erklären zu können. Er beschenkte mich in der Freude seines Herzens mit einer zierlich ausgeschnittenen papiernen Gans in rosenfarbnem Domino, von seiner eigenen Arbeit, außer einem großen Korb voll Zuckerwerk, den ich, sobald es möglich war zu entwischen, zu den Füßen meiner kleinen Mätresse, einer jungen Sklavin der Sultanin meiner Tante, niederlegte. Im übrigen war die Theorie des papiernen Drachen der höchste Gipfel, den ich damals in der Erkenntnis der Natur- und Kunst-Lehre erstieg; denn der Fakir Salamalek, mein verdienstvoller Lehrer, war aufrichtig genug zu gestehen, die Erforschung der Natur sei keine Sache für einen Mann wie er. Aber dafür wußte er sich desto mehr mit meiner Stärke in der Geschichte. Ich zählte alle morgenländische Könige von Schjan-Ben-Schjan, der einige tausend Jahre vor Sultan Adam, dem ersten Menschen, regierte, bis auf den glorwürdigen Schach-Baham, meinen Oheim, an den Fingern her; ich nannte die Namen aller Frauen und Beischläferinnen des Propheten Salomon, und wußte eine Menge schöner Historien von Königen, die in allem was sie unternahmen überaus glücklich gewesen waren, weil sie schöne Moskeen gebaut, und schöne Stiftungen zum Unterhalt frommer Derwischen, welche Tag und Nacht nichts zu tun hatten als den Koran zu lesen, gestiftet hatten. Nach diesem Teile meiner Gelehrsamkeit könnt ihr euch vorstellen, was für eine Moral und Staatswissenschaft das war, was mir der ehrliche Salamalek unter diesem Titel beizubringen suchte. Die arme Seele! Das muß ich ihm nachrühmen: er ließ sich's so angelegen sein, daß ihm oft der Schweiß in großen Tropfen auf der Stirne hing. ›Denn die Geister aller Einwohner von Indostan bis ins tausendste Glied würden als Ankläger gegen mich aufstehen‹, sagte er, ›wenn ich diesen wichtigsten Teil der Erziehung eines Prinzen, der dem Throne so nah ist, vernachlässigte.‹ Seine Absicht war gut, wie ihr sehet; und wenn seine Begriffe nicht eben so gut waren, lag die Schuld an ihm? Warum hatte Schach-Baham einen Fakir bestellt, seinen Bruderssohn Moral und Politik zu lehren? – Nach Salamaleks Meinung war der größte und beste aller Sultanen derjenige, der seine fünf Gebete und seine gesetzmäßigen Waschungen mit der pünktlichsten Genauigkeit verrichtete, sich alle Tage seines Lebens vom Wein enthielt, die meisten Derwischereien stiftete, und wenigstens den zehnten Teil seiner Einkünfte unter die Armen austeilte. Er hatte keinen andern Begriff von der Wohltätigkeit eines Fürsten; und wenn man ihn über diesen Artikel predigen hörte, so hatte ein König nichts zu tun, als seine arbeitsamen Untertanen zu Bettlern zu machen, um den müßigen gute Tage zu verschaffen; eine Methode, die er vermutlich deswegen so vortrefflich fand, weil auf diese Weise Bettelei und Reichtum unaufhörlich zirkulieren, und es einem Fürsten nie an Mitteln und Gelegenheit zur Wohltätigkeit fehlen kann, ohne daß es ihm die kleinste Mühe kostet. Diesen feinen Begriffen zu Folge war mein Fakir ein erklärter Feind des Luxus, und behauptete in vollkommnem Ernste: daß es einem Staat unendliche Mal besser wäre, wenn die Hälfte der Nation ihre Tage auf Unkosten der andern mit Müßiggehen zubrächte, als mit den verderblichen Künsten, welche die Üppigkeit beförderten. Die ganze Politik des ehrlichen Mannes war von diesem Schlage. ›Der gerechteste und gottgefälligste Krieg‹, sagte er, ›ist ein Krieg, den man unternimmt, die Feinde des Propheten zu vertilgen, und das islamische Gesetz auf Erden auszubreiten‹; und er nannte mir verschiedene Prinzen, welche sichtbarlich gestraft worden wären, weil sie Juden, Christen, Gebern und Banianen in ihre Staaten aufgenommen, und einem jeden Freiheit gelassen hätten, das höchste Wesen nach seiner eigenen Überzeugung zu verehren. Die Philosophie und die schönen Künste verachtete er als eitles Spielwerk und profane Erfindungen der alten Heiden; und er schalt mit vielem Eifer auf die Üppigkeit der Abassiden,17 durch deren sträfliche Neugier und verkehrten Geschmack diese Greuel sich unter die Rechtgläubigen eingeschlichen hätten. ›Wer den Koran und die Auslegungen der zwölf Imans wohl inne hat‹, pflegte er zu sagen, ›der allein ist ein wahrer Weiser! Alle diese Theorien der Sittenlehre und Staatswissenschaft, welche man auf die Natur zu gründen vorgibt, sind Blendwerke der bösen Geister, und verdammt sei derjenige‹, rief er mit glühenden Wangen und feurigen Augen, ›der die Seelen der Muselmannen mit diesem Gift ansteckt!‹ Er pflegte oft mit Entzücken von Amru Ben Alas, dem Feldherrn des Kalifen Omar, zu sprechen, der die berühmte Büchersammlung zu Alexandria zum Einheizen in die öffentlichen Bäder hatte verteilen lassen, weil, wie er meinte, alle diese Bücher zu nichts besserm taugten, falls nichts darin enthalten wäre als was man im Koran kürzer und besser gegeben fände, und des Feuers schuldig wären, wofern sie etwas andres enthielten als der Koran. ›Das waren goldne Zeiten‹.‹ rief er mit einer andächtigen Verzerrung seines plumpen Gesichts. ›Das waren die Zeiten, wo die Angelegenheiten des Islamismus blühten! wo die Ungläubigen unter unsre Füße getreten wurden, und das Gesetz des Propheten sich mit einer wundertätigen Schnelligkeit über den Erdboden ausbreitete!‹ – Urteilet aus diesen Proben«, fuhr der Sultan fort, »ob mein Fakir seine Schuldigkeit besser hätte tun können, wenn ihm mein Oheim Baham aufgetragen hätte, mich zu einem Fakir zu bilden! Glücklicher Weise für mich (und für Indostan, denkeich) war unter den Sklaven, die mir zur Bedienung gegeben waren, ein junger Cyprier, der Genie und Erziehung hatte, und die Begriffe und Maximen meines Fakirs, die ihm äußerst ungereimt vorkamen, auf eine so feine Art zu verspotten wußte, daß es ihm sehr wenig Mühe kostete, die Spuren auszulöschen, die sie vielleicht in meinem Gemüte hätten lassen können. Da er überdies die Geschicklichkeit und den guten Willen hatte, mir in meinen kleinen Liebesnöten Dienste zu tun, so bemächtigte er sich meines Vertrauens in einem so hohen Grade, daß ich ihn wie die Hälfte meiner Seele liebte. Wir spielten dem alten Verschnittenen und dem weisen Fakir tausend Streiche, auf deren Erfindung und Ausführung wir uns nicht wenig einbildeten. Gleichwohl konnten wir es nicht so fein machen, daß wir nicht dann und wann über der Tat ertappt und mit großer Feierlichkeit bei dem Sultan verklagt worden wären. Aber Schach-Baham, wiewohl er den Eifer meiner Vorgesetzten lobte, konnte doch selten dahin gebracht werden, unsern jugendlichen Mutwillen züchtigen zu lassen. Er lachte gemeiniglich so herzlich über die Erzählung, die ihm der Fakir in einem kläglichen Ton und mit tragischen Gebärden davon machte, daß er sich die Seiten mit beiden Händen halten mußte; und am Ende mußte sich der ehrliche Fakir mit seinem gewöhnlichen Sprichworte, Jugend hat nicht Tugend, zufrieden stellen lassen.
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