Aber weder Azor noch Alabanda wußten, daß diese hunderttausend Unzen Silbers, die an einem einzigen Feste in mutwilliger Üppigkeit verschwendet wurden, den Wert des Brotes ausmachten, welches an eben diesem Tage zweimal hunderttausend Familien hätte sättigen sollen, wenn es nicht mit einer unmenschlichen Hartherzigkeit diesen von Arbeit, Kummer und Dürftigkeit entkräfteten Menschen, und ihren vor Hunger weinenden Kindern, aus dem Munde gerissen worden wäre, um von demjenigen, der sich ihren allgemeinen Vater nennen ließ, in Sardanapalischen Gastmälern verzehrt, und unter die Genossen und Werkzeuge seiner tyrannischen Ausschweifungen verteilt zu werden.«
»Dies ist ein so abscheulicher Gedanke«, rief Schach-Gebal, »daß ich lieber heute noch in die Kutte eines Derwischen kriechen, oder, wie ein gewisser König, sieben Jahre lang ein Ochse sein und Gras fressen, als länger Sultan bleiben wollte, wenn ich Ursache hätte zu glauben, daß ich mich in diesem Falle befinden könnte.«
Nach einer so nachdrucksvollen Erklärung würde es nicht nur sehr unhöflich, sondern wirklich grausam gewesen sein, dem guten Sultan zu entdecken, daß er sich schon oft in diesem Falle befunden habe. Man versicherte ihn also einhellig des Gegenteils, mit dem gebührenden Dank für diese abermalige Probe seiner Menschlichkeit, und Nurmahal fuhr fort.
»Der gute König Azor war weit entfernt, den elenden Zustand seiner Provinzen auch nur von ferne zu argwohnen. Seine Visire hatten die sorgfältigsten Maßregeln genommen, daß die Klagen des Volkes nicht zu seinen Ohren dringen konnten. Er sah sich von lauter glücklichen oder glücklich scheinenden Leuten umgeben. Seine Hauptstadt stellte einen Inbegriff der Pracht und der Reichtümer der ganzen Welt, die umliegenden Gegenden ein Land der Bezauberungen, und selbst die Hütten des Landvolkes das Bild des Überflusses und der Freude dar. Ströme von Gold und Silber flossen aus allen Provinzen seines Reichs der Hauptstadt zu; aber, anstatt in tausend schlängelnden Bächen wieder zurückzukehren, und durch einen regelmäßigen Umlauf alle Gliedmaßen des großen Staatskörpers in lebhafter Munterkeit zu erhalten, verloren sie sich dort in einer unzähligen Menge kleiner durch einander laufender Kanäle, oder stürzten sich in bodenlose Schlünde, oder verdünsteten in die Luft. Der größte Teil von dem, was ehmals der Reichtum der Nation gewesen war, zirkulierte itzt unter einer kleinen Anzahl, bei welcher es so schnell im Kreise herum getrieben wurde, so oft und auf so mannigfaltige Art seine Form ändern mußte, daß die Masse selbst durch eine unmerkliche Abnahme sich zuletzt auf eine sehr merkliche Weise vermindert befand. Aber lange zuvor, ehe man sich entschließen konnte es gewahr zu werden, fiel der schlechte Zustand des Reichs einem jeden in die Augen, welcher Gelegenheit hatte es von einem Ende zum andern zu durchreisen. Die Größe des Elendes der Provinzen verhielt sich wie ihre Entfernung von der Hauptstadt. Hunger und Nacktheit nahm mit jeder Tagreise zu; mit jedem neuen Morgen zeigte sich das Land schlechter angebaut, weniger bevölkert, weniger gesittet, und mehr mit Zeichen des Mangels und der Unterdrückung angefüllt; bis man endlich nichts als ungeheure Wüsten vor sich sah, von welchen der Sultan keinen andern Vorteil bezog, als die Hoffnung, einen auswärtigen Feind durch ihren bloßen Anblick abzuschrecken, oder ihn wenigstens unfehlbar durch Hunger aufzureiben, eh es ihm möglich wäre ins Innere des Reichs einzudringen.
Um das Unglück von Scheschian vollständig zu machen, spielten die abgöttischen Priester dieses Landes zu Azors Zeiten eine Art von tragikomischem Possenspiele, welches einen äußerst nachteiligen Einfluß auf den Geist, die Sitten und die äußerlichen Umstände der Nation hatte.«
Bei diesen Worten wachte die Aufmerksamkeit des Sultans, welche beinahe eingeschlummert war, auf einmal auf; er stützte sich auf den linken Arm, und sah der schönen Nurmahal mit allen Zeichen der ungeduldigen Erwartung ins Gesicht.
»Ihre Hoheit werden Sich nicht betrogen finden«, sagte die Dame, »wenn Sie Begebenheiten erwarten, welche auch dann noch überraschen, wenn man sich auf das Außerordentlichste gefaßt gemacht hat.«
»Ich erwarte nichts andres«, sagte der Sultan: »und eben deswegen bin ich so begierig mehr davon zu wissen, daß ich voraus sehe, Eure Erzählung wird mich diesmal um den Schlaf bringen, den sie mir befördern sollte. Ich habe die blauen Bonzen nicht überhört, deren die Dame Alabanda in ihrer Unterredung mit dem guten Manne Azor erwähnte. Ich wollte Danischmenden nicht aus dem Zusammenhange bringen; aber itzt, da Ihr selbst auf diesen Gegenstand kommt, hoffe ich genauer mit diesen wackern Leuten bekannt zu werden.«
»Das einzige warum ich Ihre Hoheit vorher bitten muß«, versetzte Nurmahal, »ist, daß es mir erlaubt werde, mein Amt bei dieser Erzählung an Danischmenden zu überlassen, welchen die Stärke, die er in diesem Teile der alten Geschichte besitzt, fähig macht, Ihre Neubegierde auf die vollkommenste Weise zu befriedigen.«
»Von Herzen gern«, sagte der Sultan: »und, was noch mehr ist, er soll die Erlaubnis haben, so umständlich zu sein als es ihm beliebt; denn ich erwarte Begebenheiten, wovon auch die kleinsten Züge einem denkenden Kopfe nicht gleichgültig sind.«
Danischmend hatte keine Ursachen anzuführen, welche hinlänglich gewesen wären, die Ablehnung dieses Auftrags zu rechtfertigen. Er unterzog sich also demselben mit guter Art, und, nach einer kleinen Pause, fing er seine Erzählung folgender Maßen an.
»Wiewohl, nach meinem Begriffe, die schlechteste Regierungsform und die schlechteste Religion immer besser ist als gar keine: so gestehe ich doch so willig als irgend jemand, daß eine Nation, wie groß auch ihre Vorteile in andern Stücken sein möchten, unmöglich zu einem gewissen Grade von Vollkommenheit sich erheben könne, wenn sie das Unglück hat, einer ungereimten Verfassung oder einer unvernünftigen Religion unterworfen zu sein. Das letzte war der Fall, worin sich die Einwohner von Scheschian seit undenklichen Zeiten befanden. Die Verblendung dieses Volkes über eine Sache von solcher Wichtigkeit würde allen Glauben übersteigen, wenn uns die Geschichte der Welt, in ältern und neuern Zeiten, nicht so viele abgöttische Völker bekannt machte, welche sich eben so handgreiflich haben hintergehen lassen als die Scheschianer. Die alten Ägypter stellen uns hierin ein Beispiel dar, welches alle andere überflüssig macht. Das Erstaunen bindet uns die Zunge, und die Gedanken stehen still, wenn wir hören, daß ein so weises Volk fähig war, Affen, Katzen, Kälbern, Krokodillen und Meerzwiebeln, mit allen Verzückungen einer fanatischen Ehrfurcht, als göttlichen Wesen, oder wenigstens als sichtbaren Bildern göttlicher Wesen, zu begegnen.21 Ich weiß nicht, ob etwas demütigender für die Menschheit sein kann, als die Gewißheit worin wir sind, daß nichts so Unsinniges und Lächerliches erträumt werden kann, welches nicht zu irgend einer Zeit oder auf irgend einem Teile des Erdenrundes von einer beträchtlichen Anzahl von Menschen für wahr, ernsthaft und ehrwürdig wäre angesehen worden. Das schlimmste ist, daß wir selbst, bei aller Verachtung, womit wir fremde Torheiten anzusehen gewohnt sind, große Ursache haben zu glauben, daß wir an ihrem Platze nicht weiser gewesen sein würden. Erziehung, Beispiel, Gewohnheit und Nationalstolz würden sich bei uns so gut als bei jenen vereiniget haben, unsre Vernunft zu fesseln, und dasjenige was wir itzt, mit so gutem Grunde, Unsinn nennen, zum Gegenstand unsrer wärmsten Verehrung zu erheben. Gleich den Ägyptern würden wir das Unvermögen, uns irgend einen gesunden Begriff davon zu machen, ein heiliges Dunkel genannt haben, in welches sterblichen Augen nicht erlaubt sei einzudringen.22 Kurz, in den Zeiten der alten Beherrscher des Nils, zu Memphis oder Pelusium geboren, würden wir, gern oder ungern, Katzen, Krokodille und Meerzwiebeln angebetet haben so gut als jene; und dies zu eben der Zeit, da uns nichts so widersinnig gedeucht hätte, als einen Mohren, in demutsvoller Stellung und mit allen Zeichen eines andächtigen Vertrauens in seinen Gesichtsmuskeln, einen Elefantenzahn oder das Horn eines Ziegenbocks in seiner Not anrufen zu sehen.23
Dieser kleine Eingang, Sire, hat mir nötig geschienen, unser Urteil über den Aberglauben der Scheschianer zu mildern, und, in Betrachtung der Schwachheiten der menschlichen Natur, uns zu einer Nachsicht zu vermögen, ohne welche wenige Erdbewohner ihren Anspruch auf den Titel vernünftiger Wesen behaupten könnten.«
»Herr Danischmend«, sagte der Sultan, »was geschehen ist, ist geschehen; wir wollen es dabei bewenden lassen; wiewohl ihr euch, alles wohl überlegt, diese Dissertation hättet ersparen können. Denn am Ende haben wir doch nichts weiter daraus gelernt, als daß alle Köpfe unter dem Monde zu Zeiten ein wenig mondsüchtig sind, und daß keine Krähe der andern die Augen aushacken soll, wie König Dagobert sagte. Also nichts mehr hiervon, und zur Sache!«
Diesem Befehl zu Folge fuhr der Doktor also fort – –
Der Herausgeber an die Leser
Lücken, geneigte Leser, sind in allen Arten der menschlichen Kenntnisse, besonders in Geschichts-Erzählungen, eine allzu gewöhnliche Sache, als daß es euch befremden sollte, hier in der Erzählung des so genannten Philosophen Danischmend eine Lücke, und zwar, wie wir nicht bergen, eine beträchtliche Lücke zu finden.
Diese Lücke ist nicht etwann von der Art derjenigen, welche von den Gelehrten Hiatus in Manuscriptis genannt zu werden pflegen. Die Handschrift, aus welcher wir die Geschichte von Scheschian gezogen haben, liegt vollständig vor uns, und es kam bloß auf uns an, ob wir sie so vollständig, als der lateinische Übersetzer sie geliefert, mitteilen wollten oder nicht.
Vielleicht betrügen wir die Neugierde vieler Leser gerade da, wo sie am wenigsten geneigt sind, es uns zu vergeben. Und wirklich hätten wir kein Bedenken tragen sollen, die Geschichte der Religion des alten Scheschians, und der Veränderungen welche sich unter einigen Königen mit ihr zugetragen, der Welt ohne Lücken vorzulegen, wenn uns das Beispiel des lateinischen Übersetzers, und die Gründe, womit er sein Verfahren beschönigt hat, hinlänglich geschienen hätten, die Nachfolge desselben zu rechtfertigen.
Er behauptete nämlich: Die weisesten Männer wären von jeher der Meinung gewesen, daß es einer von den wichtigsten Diensten, welche man der wahren Religion leisten könne, sei, wenn man dem Aberglauben und der Tartüfferei (ihren schädlichsten Feinden, weil sie die Maske ihrer Freunde tragen) diese Maske abziehe, und sie in ihrer natürlichen Ungestalt darstelle. Bloß aus diesem Grunde hätten gelehrte und ehrwürdige Schriftsteller aus den ältern Zeiten des Christentums, ein Laktantius, ein Arnobius, ein Augustinus und andere, sich eine ernstliche Angelegenheit daraus gemacht, die Ausschweifungen und Betrügereien der heidnischen Priesterschaft (sogar nicht ohne Gefahr durch Bekanntmachung der ärgerlichsten Greuel schwachen Gemütern anstößig, zu werden) an das helleste Licht hervor zu ziehen. Sie hätten diese Gefahr als ein kleines, zufälliges und ungewisses Übel angesehen, welches gegen den großen Nutzen, den sie der Gottseligkeit und der Tugend von jener Entlarvung der religiösen Betrügerei versprochen, in keine Betrachtung komme. Es ist wahr (setzt er hinzu), Leser, welche mehr Witz als Unterscheidungskraft besitzen, könnten Ähnlichkeiten, und boshafte Leute Anspielungen zu finden glauben, wo keine sind; aber, wenn uns diese Besorgnis aufhalten sollte, welche Geschichte würde man schreiben dürfen? Eine jede wohl geschriebene Geschichte kann, in einem gewissen Sinne, als eine Satire betrachtet werden; und ich fordere den weisesten und unschuldigsten unter allen Sterblichen heraus, uns ein aufrichtiges Gemälde der Gesetze, Sitten, Meinungen und Gebräuche, von welchem Lande in der Welt er will, und sollte es Kappadocia, Pontus, oder Mysia sein, zu liefern, welches nicht voller Anspielungen zu sein scheinen sollte.
Diese und andre Gründe des lateinischen Übersetzers hätten uns vielleicht zu einer andern Zeit überzeugen, und bewegen können seinem Beispiele zu folgen. Aber in den Tagen, worin wir leben, kann die Behutsamkeit in Dingen dieser Art kaum zu weit getrieben werden. Der kleinste Anlaß, den wir wissentlich dem Leichtsinn und Mutwillen unsrer Zeiten gegeben hätten, durch die schalkhaften Wendungen, die auch der mittelmäßigste Witz in seiner Gewalt hat, unsrer Erzählung einen unechten Sinn anzudichten, würde in unsern Augen alle guten Eindrücke überwiegen, welche wir uns, ohne übertriebene Erwartungen zu hegen, von dieser Geschichte der Könige in Scheschian versprechen. Nichts ist in unsern Tagen überflüssiger als Feldzüge gegen Aberglauben und Tartüfferei.
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