Aber nichts ist leichter als diesem Übel zuvorzukommen. Es gibt zwischen dem Tagelöhner und dem Sultan so viele Stufen; und jede der höhern Stufen ist für den, der einige Grade tiefer steht, so beneidenswürdig, daß etliche Beispiele, welche von Zeit zu Zeit die Hoffnung zu steigen in den letztern wieder anfrischen, hinreichend sind, den Staat in dieser Geschäftigkeit zu unterhalten, wodurch alle Glieder desselben, indem sie bloß ihren eigenen Vorteil zu befördern glauben, dem glücklichen Einzigen dienstbar werden.‹
Es ist keinem Zweifel unterworfen, daß nichts seichter sein kann als diese Trugschlüsse des sinnreichen Eblis. Die Grundfeste eines Staats besteht in der Zufriedenheit der untersten Klassen mit dem Stande worin sie sich befinden, und sein Untergang ist von dem Augenblick an gewiß, da der Landmann Ursache hat, den müßig gehenden Sklaven eines Großen zu beneiden.
Die Grundsätze des sinnreichen Eblis hatten drei große Fehler. Sie hingen eben so wenig unter sich zusammen, als sie mit der Erfahrung übereinstimmten; und man konnte sie alle Augenblicke übertreten, ohne an Gründen Mangel zu haben, welche die Ausnahmen rechtfertigten. Aber sie schmeichelten den Leidenschaften eines Fürsten, der keine andre Regel kannte noch kennen wollte, als seine Laune. Isfandiar fand nichts bündiger als die Schlüsse seines Lieblings.
Man konnte schwerlich weniger Anlage zu einer mitleidigen Sinnesart haben als dieser Sultan. Das kleinste Ungemach, das ihn selbst betraf, setzte ihn in die heftigste Ungeduld; aber das Leiden andrer fand keinen Zugang zu seinem Herzen. Wie überflüssig war die Bemühung, einen solchen Fürsten noch durch Grundsätze gefühllos zu machen! Und gleichwohl hatte Eblis nichts Angelegeners, als ihm seine Untertanen bei jeder Gelegenheit in dem verhaßtesten Lichte zu zeigen.
›Das Volk‹, sagte Eblis zum Sultan seinem Herrn, ›ist ein vielköpfiges Tier, welches nur durch Hunger und Streiche gebändiget werden kann. Es wäre Unsinn, seine Liebe durch Wohltaten gewinnen zu wollen. Tausend Beispiele von schwachen Fürsten, welche die Opfer einer allzu milden Gemütsart geworden sind, beweisen diese Wahrheit. Das Volk sieht alles Gute was man ihm erweist für Schuldigkeit an, erwartet immer noch mehr als man zu seinem Besten tut, und hält sich von aller Pflicht der Dankbarkeit losgezählt, sobald es sich in seinen ausschweifenden Erwartungen betrogen sieht. Mit Widerwillen trägt es die Fesseln der Abhänglichkeit; unbeständig in seinen Neigungen, willkürlich in seinen Urteilen, und immer mit dem Gegenwärtigen unzufrieden, dürstet es nach Neuerungen; Unfälle, welche seinen Gebietern zustoßen, sind ihm fröhliche Begebenheiten; und wiewohl es selbst unter allgemeiner Not am meisten leidet, sehnt es sich dennoch nach öffentlichem Unglück, um Gelegenheit zu haben zu murren, und seine Vorsteher mit Vorwürfen zu überhäufen. Wenn eine Gottheit vom Himmel stiege, die Menschen zu beherrschen, sie würde nicht frei von ihrem Tadel bleiben. Der schlechteste unter ihnen hält sich für gut genug die Welt zu regieren, und eben darum weil der Pöbel nichts weiß, glaubt er alles besser zu wissen als seine Obern. Vergebens würd es sein, für die Glückseligkeit dieser Unersättlichen zu arbeiten: man müßte einen jeden von ihnen zu einem Sultan machen können, um ihn zufrieden zu stellen; sie bleiben mißvergnügt so lange noch etwas zu wünschen übrig ist. Nichts ist gefährlicher als sie mit dem Überfluß und den Wollüsten bekannt zu machen; es würde weniger Gefahr sein einen schlafenden Löwen, als die Begierlichkeit dieser Leute aufzuwecken. Sie mit seidenen Banden oder Blumenketten binden zu wollen, wäre eben so viel als eine Hyäne mit Spinneweben zu fesseln. Nichts als die eiserne Notwendigkeit, und die Verzweiflung ihre Ketten jemals zerreißen zu können, ist vermögend sie in ihren Schranken zu halten; und, gleich andern wilden Tieren, müssen sie ausgemergelt werden und den Stock immer über ihrem Rücken schweben sehen, um einen Gebieter dulden zu lernen.‹«
»Danischmend«, sagte der Sultan, »ich gestehe, die Abschilderung, die uns Eblis von dem Volke macht, ist nicht geschmeichelt; aber es ist Wahrheit darin. Ich denke ungern an die Folgen, welche sich daraus ziehen lassen: und gleichwohl würd es, wie Eblis sagt, gefährlich sein, sich selbst in einer so wichtigen Sache täuschen zu wollen.«
»Gnädigster Herr«, versetzte der Philosoph, »ich weiß nicht ob mich meine Gutherzigkeit verhindert hat, den Menschen, den ich seit mehr als fünfundzwanzig Jahren studiere, so zu sehen wie er ist. Es mag wohl zu viel Rosenfarbe in meiner Phantasie herrschen. Aber, wie dem auch sein mag, ich kann mich unmöglich überwinden, die Menschen für so bösartig anzusehen, als sie in der Theorie dieses Eblis sind. Wenn die Erfahrung für ihn zu reden scheint, so spricht sie nicht weniger für mich. Kennen wir nicht kleine Völker, welche im Schoße der Freiheit und der einfältigen Mäßigung glücklich sind? Vergleichen wir einmal diese Völker mit denjenigen, welche unter den Bedrückungen der willkürlichen Gewalt einer harten Regierung schmachten! Der erste Anblick wird uns sogleich einen starken Unterschied bemerken lassen. Jene zeigen uns ein gesundes, vergnügtes, fröhliches Ansehen. Ihre Wohnungen sind weder weitläufig noch prächtig; aber auch die ärmste ihrer Hütten sieht einer Wohnung von Menschen, nicht einem Schlupfwinkel wilder Tiere gleich. Sie sind schlecht gekleidet; aber sie sind doch vor Frost und Nässe beschützt. Ihre Nahrung ist eben so einfältig; aber man sieht ihnen wenigstens des Abends an daß sie zu Mittage gegessen haben. Diese schleichen, als lebende Bilder des Elends, mit gesenkten Häuptern umher, und heften aus hohlen Augen gramvolle Blicke auf die Erde, welche sie – nicht für sich und ihre Kinder – bauen müssen. Überall begegnen unserm beleidigten Auge blutlose, ausgehungerte und sieche Körper; – schwermütige, düstre, von Sorgen abgezehrte Gesichter; – alte Leute, welche sich mit Mühe von der Stelle schleppen, um zur Belohnung einer funfzigjährigen schweren Dienstbarkeit das wenige Brot, das ihr vom Mangel eingeschrumpfter Magen noch ertragen kann, dem Mitleiden der Vorübergehenden durch Betteln abzunötigen; – verwahrloste, nackende, krüppelhafte Kinder, oder wimmernde Säuglinge, welche sich anstrengen, einer hungernden Mutter noch die letzten Blutstropfen aus der ausgemergelten Brust zu ziehen. Halb vermoderte Lumpen, die von den dürren Lenden dieser Elenden herab hangen, zeigen wenigstens daß sie den Willen haben ihre Blöße zu decken: aber was wird sie vor der sengenden Sonne, vor Wind und Regen und Kälte decken? Ihre armseligen aus Kot und Stroh zusammen geplackten Hütten stehen jedem Anfall der Elemente offen.
Hierher kriechen sie, wenn die untergehende Sonne sie von der täglichen Arbeit für gefühllose Gebieter ausgespannt hat, ermüdet zusammen, und schätzen sich noch glücklich, wenn sie so viel Vorrat von einem Brote, welches ihre Herren für ihre Hunde zu schlecht halten würden, übrig finden, als sie vonnöten haben, um nicht hungrig auf einem Lager von faulendem Stroh den letzten Trost des Elenden vergebens herbei zu seufzen.«
»Wie du malst, Danischmend!« – rief der Sultan mit einer auffahrenden Bewegung aus, indem er sich zu verbergen bemühte, wie gerührt er war.
1 comment