Weißt du was, Danischmend? Das erste Mal, wenn ich auf die Jagd reite, sollst du mich begleiten. Wir werden da leicht Gelegenheit finden, uns von meinen übrigen Leuten zu entfernen, und dann wollen wir, ohne uns zu erkennen zu geben, die Nacht in irgend einem abgelegnen Dorfe zubringen. Finden wir dort eine lebendige Seele, welche Böses von mir spricht, so soll mir der Emir, in dessen Bezirk der Ort gehört, dafür Rechenschaft geben. Ich will ihn zu einem Beispiel für die übrigen machen, und verlaß dich darauf, daß es nicht ohne Wirkung sein soll. Indessen können wir mit Muße an die Ausführung deiner Entwürfe denken. Aber sage mir, Danischmend, hast du ausfündig gemacht, wer die drei Kalender waren, welche gestern jenseits des Flusses, den Gärten meines Serails gegen über, unter der großen Cypresse saßen?« –
Danischmend hustete noch zu rechter Zeit einen Seufzer weg, der ihm entgehen wollte, und von diesem Augenblick an war die Rede – von den drei Kalendern.
3.
In der folgenden Nacht wurde, bis der Sultan einschlief, von – den drei Kalendern gesprochen. Nurmahal und der junge Mirza hatten sehr viel von ihnen zu sagen.
Die Nachrichten, welche man über diesen wichtigen Gegenstand einzog, waren so mannigfaltig, hingen so wenig zusammen, und schienen so viel Geheimnisvolles zu verraten, daß man etliche Nächte hinter einander von nichts anderm reden konnte als von den drei Kalendern. Inzwischen lief doch am Ende alles darauf hinaus, daß man nichts Sonderliches von ihnen wüßte, und daß es sich in der Tat der Mühe nicht verlohnte mehr von ihnen wissen zu wollen.
Endlich wurde Schach-Gebal dieses Zwischenspiels überdrüssig.
»Ihr seid mir feine Leute«, sagte Schach-Gebal. »Ich will die Geschichte der Könige von Scheschian wissen, und man spricht mir seit sieben Tagen von nichts als von Kalendern. Bin ich etwa ein Schach-Riar?«
Es versteht sich von selbst, daß es nur auf Seine Hoheit angekommen war, diese sieben Tage durch mit andern Gegenständen unterhalten zu werden. Aber, wie jedermann weiß, würd es sehr unhöflich gewesen sein, den Sultan etwas von dieser Reflexion merken zu lassen.
Danischmend setzte demnach seine Erzählung von Isfandiar und seinem Günstlinge folgender Maßen fort.
»Den Grundsätzen des sinnreichen Eblis zu Folge war nichts unweiser, als ein so gefährliches Tier, wie er das Volk abmalte, reich werden zu lassen. Aber zum Unglück für die Scheschianer blieb die Bedeutung des Wortes reich so unbestimmt, daß Eblis die armen Leute, so lange sie noch etwas hatten, was sich, wenn das Wort Bedürfnis im engsten Sinne genommen wird, entbehren läßt, immer noch zu reich fand.
Der Adel in Scheschian war von Alters her ein Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke gewesen. Die Könige hatten die Edeln als ihre gebornen Räte und Gehülfen in der Verwaltung der besondern Teile des königlichen Amtes betrachtet; und wiewohl das Ansehen des Adels unter dem tatarischen Stamme von Stufe zu Stufe nach eben dem Verhältnisse, wie das königliche stieg, gesunken war, so besaß er doch wenigstens noch sehr schöne Überbleibsel seiner ehmaligen Vorzüge.
In allen Staaten, wo sich ein solcher Mittelstand zwischen dem Fürsten und dem Volke befindet, hat man zu allen Zeiten wahrgenommen, daß sich der Adel auf Unkosten des Volkes, und das Volk sich auf Unkosten des Adels zu vergrößern sucht. Jener, da er wenig Hoffnung hat, seine Rechte auf der Seite des Thrones zu erweitern, sucht sich für seine Ergebenheit gegen denselben durch Anmaßungen über die Rechte des Volkes zu entschädigen. Dieses, da es sich von allen Seiten gedrängt sieht, und leicht begreift, daß es dem Übergewicht des Thrones am wenigsten widerstehen kann, wendet alles an, sich wenigstens die kleinen Tyrannen vom Halse zu schaffen, deren Joch desto verhaßter ist, je weniger sie ihre Bedrückungen durch den Vorwand des allgemeinen Besten erträglicher machen können. Man gibt dem Fürsten williger, weil man weiß, daß die Sorgen für den ganzen Staat auf seinen Schultern liegen, und weil wenigstens die Vermutung vorwaltet, daß ein Teil der öffentlichen Abgaben zu Bestreitung der öffentlichen Bedürfnisse angewandt werde. Aber alles was man denjenigen geben muß, welche, dem Könige gegen über, eben so demutsvolle Untertanen als die übrigen, in dem Bezirke hingegen, wo sie zu befehlen haben, kleine Monarchen vorstellen, sieht man als unbillige Erpressungen an, welche man seinen eigenen Bedürfnissen abbrechen muß, um den Stolz und die Üppigkeit einer Menschenklasse zu nähren, die man für sehr entbehrlich hält, weil der Vorteil, den sie dem Ganzen verschaffen, nicht sogleich in die Sinne fällt.
Die Könige haben von jeher sich dieser gegenseitigen Gesinnung des Adels und des Volkes zur Ausdehnung ihrer eigenen Gewalt gar meisterlich zu bedienen gewußt. Sie haben das Volk gebraucht den Adel niederzudrücken; und sobald dieser Zweck erreicht war, dem Adel, dessen Beistand sie gegen den besorglichen Übermut des Volkes vonnöten zu haben glaubten, die Werkzeuge seiner Unterdrückung Preis gegeben.
Da es zu spät war, wurde Volk und Adel gewahr, daß sie sich zu einer sehr albernen Rolle hatten gebrauchen lassen; daß in einem Staate, wo das Volk im Besitze großer Vorrechte ist, die Vorzüge des Adels dem Volk eben so heilig sein sollen, als seine eigenen; und daß jeder von diesen beiden Ständen nicht nur seine eigene, sondern die allgemeine Sicherheit und den öffentlichen Wohlstand untergräbt, wenn er die Rechte des andern zu schwächen oder seinen besondern Nutzen auf Kosten des andern zu vergrößern sucht.
Die Scheschianer waren in diesem Stücke nicht vorsichtiger gewesen als viele andre Völker. Der Hof hatte sich ihre Torheit zu Nutze gemacht, weil das Interesse der Höflinge ist, die Autorität eines Herrn, der durch ihre Einflüsse regiert wird und in dessen Gewalt sie sich teilen, so unumschränkt zu machen als sie können. Sie überredeten die Könige – und nichts kostet weniger Mühe als diese Überredung –, daß ein Fürst an Ansehen und Macht gewinne, was sein Adel und sein Volk an Freiheit und Reichtum verliere; und die guten Könige dachten gewiß an nichts weniger, als an die unfehlbare Folge der politischen Operation, wozu sie sich so leicht bereden ließen. Die Erfahrung mußte sie belehren, daß ein Despot, dessen Adel aus Höflingen und dessen Volk aus Bettlern besteht, – ein Despot, dessen Städte ohne Einwohner sind, und dessen Ländereien brachliegen und verwildern; ein Despot, der anstatt über zwanzig Millionen glücklicher Menschen, über halb so viel träge, mißvergnügte und mutlose Sklaven zu gebieten hat; – daß dieser Despot ein viel kleinerer Herr sei, als ein eingeschränkter Fürst, der nicht spitzfündig genug ist, einen Unterschied zwischen seinem Nutzen und dem Nutzen seiner Untertanen zu machen, sondern einfältiglich der Stimme seines Menschenverstandes glaubt, die ihn versichert, daß es besser sei, der geliebte Vater von den Bewohnern eines kleinen Landes, als der gefürchtete Tyrann einer ungeheuern Einöde zu sein, in welcher hier und da noch hervorragende Trümmer das Zeugnis ablegen, daß einst Menschen da gewohnt haben, welche bessere Zeiten sahen als die seinigen.
Die Erfahrung mußte die Könige von Scheschian von dieser großen Wahrheit, dem Grundpfeiler aller wahren Staatskunst, unterrichten; aber, wie Isfandiar vielleicht anfing sie gewahr zu werden – war es zu spät.
Unter der Regierung des schwachen Azor war der größte Teil des Adels durch den übermäßigen Aufwand, wozu er von dem Beispiele des Hofes verleitet und gewisser Maßen genötiget wurde, in sehr kurzer Zeit dahin gebracht worden, in den niedrigsten Hofkünsten die Mittel zu suchen, diesen Aufwand auf andrer Leute Unkosten fortzusetzen. Unter Isfandiarn wurde das Werk der vorher gehenden Regierungen und der eigenen Torheit der Edeln vollendet. ›Übermäßige Ungleichheit ist die verderbliche Pest eines Staats‹, sagte Eblis. Und so mußte eine sehr wichtige, aber in den Händen eines verächtlichen Werkzeuges der Tyrannei sehr übel versorgte Wahrheit zum Vorwande dienen, den Adel zum Volk und beide zu Sklaven herab zu würdigen. Vor dem blendenden Glanze des Thrones verschwand aller Unterschied. Isfandiar sah den edelsten Emir des Reichs und den niedrigsten Tagelöhner gleich weit unter sich, und es war ein Spiel für ihn, aus einem Reitknechte, wenn es ihm einfiel, einen Fürsten zu machen. Dies war das unfehlbare Mittel, jeden Überrest von Tugend und Ehre, der noch in den ausgearteten Söhnen besserer Väter glimmte, zu ersticken. Die Edeln sanken, so wie sie sich an eine solche Behandlung gewöhnen lernten, zu wirklichem Pöbel herab; und wenn sie sich noch durch etwas von ihm unterschieden, so war es durch einen höhern Grad von Unwissenheit und Ungezogenheit, durch schlechtere Sitten, und einen vollständigern Verlust alles moralischen Gefühls, aller Scheu vor sich selbst, vor dem Urteil ihrer Zeitgenossen, und vor dem furchtbaren und unbestechlichen Gerichte der Nachwelt. Unfähig sich zu dem großen Gedanken ihrer wahren Bestimmung zu erheben, unfähig sich in dem schönen Lichte geborner Fürsprecher des Volkes und Mittler zwischen ihm und dem Thron anzusehen, setzten sie ihre Ehre in eine unbedingte Unterwürfigkeit unter die gesetzlose Willkür des Sultans; sie wetteiferten um den Vorzug, die Werkzeuge seiner schändlichsten Leidenschaften, seiner ungerechtesten Befehle zu sein. Wer am niederträchtigsten schmeicheln, am wurmähnlichsten kriechen, am geschicktesten betrügen konnte, wer den Mut hatte einer Schandtat mit der unerschrockensten Miene unter die Augen zu gehen, kurz wer sich aller dieser Schwachheiten der menschlichen Natur, die man Scham, Mitleiden und Gewissen nennt, am vollkommensten entlediget, und in der Fertigkeit des Lasters, in der Kunst, es mit dem edelsten Anstande, mit der leichtesten Grazie auszuüben, den höchsten Gipfel erreicht hatte, – war der beneidete Mann, den die geringern Bösewichter mit Ehrfurcht ansahen; der Mann, der gewiß war sein Glück zu machen, und nach welchem jedermann sich zu bilden beflissen war.
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