Jeder neue Vorteil, den die Rajas über ihre Könige erhielten, erhöhete ihren Übermut, und vermehrte ihre Forderungen. Unter dem Vorwand, ihre Freiheit (ein Ding, wovon sie niemals einen bestimmten Begriff gehabt zu haben scheinen) und die Rechte der Nation (welche niemals ins Klare gesetzt worden waren) gegen willkürliche Anmaßungen sicher zu stellen, wurde das königliche Ansehen nach und nach so eingeschränkt, daß es, wie die Fabel von einer gewissen Nymphe sagt, allgemach zu einem bloßen Schatten abzehrte« –
– Hier gähnte der Sultan zum ersten Male –
– »bis endlich selbst von diesem Schatten nichts als eine leere Stimme übrig blieb, welche gerade noch so viel Kraft hatte, nachzuhallen was ihr zugerufen wurde.
Scheschian befand sich, solange diese Periode dauerte, in einem höchst elenden Zustande. Von mehr als dreihundert kleinern und größern Bezirken, deren jeder seinen eigenen Herrn hatte, sah der größte Teil einem Lande gleich, das kürzlich von Hunger, Krieg, Pest und Wassersnot verwüstet worden war. Die Natur hatte da nichts von der lachenden Gestalt, nichts von der reizenden Mannigfaltigkeit und dem einladenden Ansehen von Überfluß und Glückseligkeit, womit sie die Sinnen und das Herz in jedem Land einnimmt, welches von einem weisen Fürsten väterlich regiert wird.«
Hier klärte sich die Miene des Sultans einmal wieder auf. Er dachte an seine Lustschlösser, an seine Zaubergärten, an die schönen Gegenden, die er darin auf allen Seiten vor sich liegen hatte, an die mosaisch eingelegten, und mit doppelten Reihen von Zitronenbäumen besetzten Wege, die ihn dahin führten, und genoß etliche Augenblicke lang die Wollust der vollkommensten Zufriedenheit mit sich selbst.
Das war es nicht, was die beiden Omras wollten, daß er dabei denken sollte! – »Weiter, Nurmahal«, sprach der vergnügte Sultan.
»Allenthalben wurden die Augen eines Reisenden, der nicht ohne alles Gefühl für den Zustand seiner Nebengeschöpfe war, durch traurige Bilder des Mangels und der unbarmherzigsten Unterdrückung beleidigt.
Die kleinen Tyrannen, denen der König von Scheschian neunzehn von zwanzig Teilen seiner Untertanen Preis zu geben genötigt war, hatten in Absicht der Verwaltung ihrer Ländereien eine Denkungsart, die derjenigen von gewissen Wilden glich, von denen man sagt, daß sie, um der Frucht eines Baumes habhaft zu werden, kein bequemeres Mittel kennen, als den Baum umzufällen. Ihr erster Grundsatz schien zu sein, den gegenwärtigen Augenblick zum Vorteil ihrer ausschweifenden Lüste auszunützen, ohne sich darum zu bekümmern, was die natürlichen Folgen davon sein möchten. Diese Herren fanden nicht das geringste weder in ihrem Kopfe noch in ihrem Herzen, das der armen Menschheit bei ihnen das Wort geredet hätte. In ihren Augen hatte das Volk keine Rechte, und der Fürst keine Pflichten. Sie behandelten es als einen Haufen belebter Maschinen, welche, so wie die übrigen Tiere, von der Natur hervor getrieben worden wären, für sie zu arbeiten, und die keinen Anspruch an Ruhe, Gemächlichkeit, und Vergnügen zu machen hätten. So schwer es ist, sich die Möglichkeit einer so unnatürlichen Denkungsart vorzustellen, so ist doch nichts gewisser, als daß sie es dahin gebracht hatten, sich selbst als eine Klasse von höhern Wesen anzusehen, die, gleich den Göttern Epikurs, kein Blut sondern nur gleichsam ein Blut in den Adern rinnen hätten; denen die Natur zu willkürlichem Gebote stehe; denen alles erlaubt sei, und an welche niemand etwas zu fodern habe. Die Knechtschaft der Unglücklichen, die unter ihrem Joche schmachteten, ging so weit, daß sie jeden Fall, wo man ihnen durch eine besondere Ausnahme die allgemeinsten Rechte der Menschheit angedeihen ließ, als eine unverdiente Gnade ansehen mußten. Die Folgen einer so widersinnigen Verfassung stellen sich von selbst dar. Eine allgemeine Mutlosigkeit machte nach und nach alle Triebräder der Vervollkommnung stille stehen; der Genie wurde ihm Keim erstickt, der Fleiß abgeschreckt, und die Stelle der Leidenschaften, durch deren beseelenden Hauch die Natur den Menschen entwickelt, und zum Werkzeug ihrer großen Absichten macht, nahm fressender Gram und betäubende Verzweiflung ein.8 Sklaven, welche keine Hoffnung haben, anders als durch irgend einen seltnen Zufall, der unter zehentausend kaum Einen trifft, sich aus ihrem Elend empor zu winden, arbeiten nur in so fern sie gezwungen werden, und können nicht gezwungen werden irgend etwas gut zu machen. Sie verlieren alles Gefühl der Würdigkeit ihrer Natur, alles Gefühl des Edeln und Schönen, alles Bewußtsein ihrer angebornen Rechte« –
– der Sultan gähnte hier zum zweiten Male –
– »und sinken in ihren Empfindungen und Sitten zu dem Vieh herab, mit welchem sie genötiget sind den nämlichen Stall einzunehmen; ja, bei der Unmöglichkeit eines bessern Zustandes, verlieren sie endlich selbst den Begriff eines solchen Zustandes, und halten die Glückseligkeit für ein geheimnisvolles Vorrecht der Götter und ihrer Herren, an welches den mindesten Anspruch zu machen Gottlosigkeit und Hochverrat wäre.
Dies war die tiefe Stufe von Abwürdigung und Elend, auf welche die armen Bewohner von Scheschian herab gedrückt wurden. Eine allgemeine Verwilderung würde sie in kurzem wieder in den nämlichen Stand versetzt haben, aus welchem der große Affe, ihrem angeerbten Wahn zu Folge, ihre Stammeltern gezogen hatte: in einen Stand, worin sie sich wenigstens mit der Unmöglichkeit noch tiefer zu sinken hätten trösten können; wenn nicht eine unvermutete Staatsveränderung« –
hier machte der Mirza die schöne Nurmahal bemerken, daß der Sultan unter den letzten Perioden dieser Vorlesung eingeschlafen war.
2.
Der Sultan hatte in vielen Wochen nicht so gut geschlafen als auf die erste Vorlesung, womit er von der Sultanin Nurmahal in der letzten Nacht unterhalten worden war: und hätte der Page, der ihn zum Morgengebet zu wecken pflegte, seine Zeit nicht so übel genommen, ihn mitten in einem Traume von dem König Dagobert, dessen Ausgang zu sehen er begierig war, zu unterbrechen, so würde Se. Hoheit den ganzen Tag über bei der besten Laune von der Welt gewesen sein.
Die schöne Nurmahal ermangelte also nicht, sich in der folgenden Nacht zur gewöhnlichen Zeit wieder einzufinden, um die zweite Probe mit ihrem Opiat zu machen, welches zum ersten Male so wohl angeschlagen, und dabei den Vorzug hatte, das unschädlichste unter allen zu sein, die man hätte gebrauchen können.
Wir merken hier ein für allemal an, daß diese Dame, welche vermutlich die Geschichte von Scheschian schon in ihrem eigenen Kabinette gelesen hatte, und, wie man uns versichert, eine Frau von Geist, Belesenheit und Einsicht war, sich im Lesen nicht so genau an den Text gebunden hielt, um nicht zuweilen die Erzählung abzukürzen, oder mit ihren eigenen Reflexionen zu bereichern, oder sonst irgend eine Veränderung im Schwung oder Ton derselben vorzunehmen, je nachdem ihr die gegenwärtige Verfassung und Laune des Sultans den Wink dazu gab. Man erwarte also, daß sie bald in ihrer eigenen Person sprechen, bald ihren Autor reden lassen wird, ohne daß wir nötig finden, jedesmal besondere Anzeige zu tun, wer die redende Person sei; ein Umstand, woran dem Leser wenig gelegen ist, und den wir seiner eigenen Scharfsinnigkeit ruhig überlassen können.
»Ihre Hoheit«, fing sie an, »erinnern Sich des Zustandes, worin wir die Scheschianer gestern verlassen haben. Er war so verzweifelt, daß sie nur von einer Staatsveränderung einige Erleichterung ihres Elendes erwarten konnten. Die Gelegenheit dazu konnte nicht lange ausbleiben. Ogul, der Kan einer benachbarten tatarischen Völkerschaft, ersah sich des Augenblicks, da einige Fürsten aus wenig erheblichen Ursachen den damaligen König vom Throne gestoßen hatten, und über die Erwählung eines neuen sich unter sich selbst und mit den übrigen so wenig vergleichen konnten, daß endlich beinahe so viel Könige, als Scheschian Provinzen hatte, aufgeworfen wurden. Da keiner von diesen Nebenbuhlern den andern neben sich dulden wollte, so erfuhr dieses unglückliche Reich alle Drangsale und Greuel der Anarchie und Tyrannie zu gleicher Zeit: die eine Hälfte der Nation wurde aufgerieben, und die andere dahin gebracht, einen jeden, der sie, auf welche Art es auch sein möchte, von ihren Unterdrückern befreien wollte, für ihren Schutzgott anzusehen. Viele, welche alles hoffen konnten weil sie nichts mehr zu verlieren hatten, schlugen sich auf die Seite des Eroberers; die minder mächtigen Rajas und Großen des Reichs folgten ihrem Beispiel; und die übrigen wurden um so leichter überwältiget, da ihre Uneinigkeit sie verhinderte, mit Nachdruck gegen den gemeinschaftlichen Feind zu arbeiten. Ogul-Kan wurde also in kurzer Zeit ruhiger Besitzer des scheschianischen Reiches. Das Volk, welches in mehr als Einer Betrachtung bei dieser Staatsveränderung gewann, dachte nicht daran, und konnte nicht daran denken, seinem Befreier Bedingungen vorzuschreiben. Die ehmaligen Großen, welche daran dachten, waren nicht mehr die Leute, die sich eine solche Freiheit mit ihrem Überwinder hätten heraus nehmen dürfen, und mußten sich gefallen lassen, selbst das wenige, was ihnen von ihrer verlornen Größe gelassen wurde, als eine Gnade aus seinen Händen zu empfangen. Die Verfassung des neuen Reichs von Scheschian war also diejenige einer unumschränkten Monarchie; das ist, das Reich hatte gar keine Verfassung, sondern alles hing von der Willkür des Eroberers ab, oder von dem Grade von Weisheit oder Torheit, Güte oder Verkehrtheit, Billigkeit oder Unbilligkeit, wozu ihn Temperament, Umstände, Laune und Zufall von Tag zu Tage bestimmen mochten.
Zum Glücke für die Überwundnen war der König Ogul, wie die meisten tatarischen Eroberer, eine ganz gute Art von Fürsten« –
»Wenn es geschehen könnte ohne Sie zu unterbrechen, Madam«, sagte Schach-Gebal, »so möchte ich wohl wissen, was Sie mit Ihrer ganz guten Art von Fürsten sagen wollen?«
»Sire«, erwiderte die schöne Nurmahal, »ich gestehe, daß nichts Unbestimmteres ist als dieser Ausdruck. Das was man gewöhnlich eine ganz gute Art von Fürsten zu nennen pflegt, dürfte wohl öfters eine sehr schlimme Art von Fürsten sein; aber so war es nicht in gegenwärtigem Falle. Ogul-Kan hatte zwar einige beträchtliche Untugenden. Er war so eifersüchtig auf seine willkürliche Gewalt, daß man gar leicht das Unglück haben konnte ihn zu beleidigen; beleidigt war er rachgierig, und in seiner Rache grausam. Außerdem hatte er die schlimme Gewohnheit, alle schöne Frauen als sein Eigentum anzusehen; und, wenn er den Wein weniger geliebt hätte, würde ihm sogar der berühmte Sultan Salomon in diesem Stücke habe weichen müssen.
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