Ich habe noch ein, zwei Stunden Arbeit vor mir; ich mußte bestimmte Dinge bis zum Schluß aufschieben.«

Raymond ging zu der steinernen Arbeitsplatte hinüber, und Clarke sah ihm düster zu, wie er sich über eine lange Reihe Phiolen beugte und die Flamme unter dem Schmelztiegel entzündete. Der Doktor hatte eine kleine Lampe, wie die größere mit einem Schirm versehen, auf einem Sims über seinen Apparaturen stehen, und Clarke, der im Schatten saß, schaute in den großen düsteren Raum und betrachtete fast verwundert die bizarren Licht- und Schatteneffekte, wo die gleißende Beleuchtung und die ungestalte Dunkelheit aufeinandertrafen. Bald wurde er sich eines eigenartigen Geruches bewußt, der zuerst nur als leiseste Andeutung den Raum erfüllte; als er deutlicher wurde, erstaunte es Clarke, daß er sowenig an eine Apotheke oder an das Behandlungszimmer eines Arztes erinnerte. Müßig begann er, den Sinneseindruck zu analysieren, und halb unbewußt brachte ihn dieser Versuch dazu, sich an einen Tag vor fünfzehn Jahren zu erinnern, den er in der Nähe seines alten Wohnsitzes verbracht hatte, herumstreifend in den Wäldern und Wiesen. Es war ein brennendheißer Tag Anfang August gewesen, die Hitze hatte die Umrisse aller Dinge verwischt und alle Entfernungen in einen schwachen Dunst gehüllt, und die Leute, die es gewohnt waren, das Thermometer zu konsultieren, redeten von einer abnormen Anzeige, einer fast tropischen Temperatur. Seltsam stieg dieser wunderbar heiße Tag des Jahres 185 – in Clarkes Phantasie empor; die Empfindung eines blendenden, alles durchdringenden Sonnenlichts schien die Schatten und den Lampenschein des Laboratoriums auszulöschen, und er spürte wieder, wie die erhitzte Luft um sein Gesicht wallte, sah die zitternde Wärme aus der Grasnarbe emporsteigen und hörte das myriadenfache Wispern des Sommers.

»Ich hoffe, der Geruch irritiert Sie nicht, Clarke – es ist nichts Ungesundes daran. Sie werden höchstens ein wenig schläfrig davon.«

Clarke hörte die Worte durchaus deutlich und wußte, daß Raymond zu ihm sprach, doch hätte er um nichts in der Welt vermocht, sich aus seiner Lethargie zu lösen. Er konnte nur an jene einsame Wanderung vor fünfzehn Jahren denken; das war sein letzter Blick auf die Felder und Wälder gewesen, die er seit seiner Kindheit gekannt hatte, und nun stand dies alles in strahlendem Licht wie ein Bild wieder da. Vor allem drang der Duft des Sommers ihm in die Nase, der Geruch der durcheinanderwachsenden Blumen, die Witterung von Wäldern, von kühlen Schattenorten tief in grünen Tiefen, hervorgelockt von der Sonnenhitze; und der Duft der guten Erde, die wie mit ausgebreiteten Armen und lächelnden Lippen dalag, überwältigte alles. Seine Träumerei ließ ihn nun von den Wiesen in den Wald hinein wandern, so, wie er vor langer Zeit gegangen war, er bahnte sich einen kleinen Pfad durch das glänzende Unterholz der jungen Buchen. Da Rieseln des aus den Kalksteinfelsen rinnenden Wassers klang durch seinen Traum als klare Melodie. Die Gedanken schweiften ab und vermengten sich mit anderen Erinnerungen, der Buchenweg verwandelte sich zu einem Pfad unter Steineichen, und hier und da stieg eine Weinranke von Ast zu Ast, entsandte gewundene Schlingen und sank unter purpurnen Trauben nieder, und die kargen graugrünen Blätter eines wilden Olivenbaumes hoben sich vor den dunklen Schatten der Eichen ab. Clarke erkannte, tief in die Falten des Traumgewebes versunken, daß der Weg von seinem Vaterhaus ihn in ein unbekanntes Land geführt hatte, und verwunderte sich der ganzen Seltsamkeit, als plötzlich an Stelle des sommerlichen Summens und Wisperns eine unendliche Stille sich auf alle Dinge herabzusenken schien, der Wald schwieg, und er einen Moment lang von Angesicht zu Angesicht mit etwas Gegenwärtigem stand, das weder Mensch noch Tier war, nicht zu den Lebenden zählte noch zu den Toten, sondern eine Vermischung aller Dinge war, die Form von allem, doch ohne alle Form. Und in diesem Moment löste sich das Sakrament von Leib und Seele auf, und eine Stimme schien zu rufen: »Laßt uns hinweggehen!«, und dann die Dunkelheit der Dunkelheit hinter den Sternen, die Dunkelheit, immerwährend.

 

Als Clarke zusammenfuhr und erwachte, sah er Raymond ein paar Tropfen einer öligen Flüssigkeit in eine grüne Phiole gießen, die er dann sorgfältig mit einem Stöpsel verschloß.

»Sie waren eingenickt«, sagte er, »die Reise hat Sie wohl ermüdet. Jetzt ist alles getan. Ich werde Mary holen, ich bin in zehn Minuten wieder hier.«

Clark lehnte sich in seinen Sessel zurück und hing erstaunten Gedanken nach. Es schien, als sei er nur von einem Traum in einen anderen getreten. Halb wartete er darauf, die Wände des Laboratoriums zergehen und verschwinden zu sehen, um in London zu erwachen, mit einem leisen Schaudern über die Phantastereien seines Schlafes. Aber endlich ging die Tür auf, der Doktor kam zurück, und hinter ihm ging ein etwa siebzehn Jahre altes Mädchen, ganz in Weiß gekleidet. Es war so schön, daß Clarke sich nicht mehr wunderte über das, was der Doktor ihm geschrieben hatten. Ein Erröten färbte jetzt ihr Gesicht, ihren Hals und ihre Arme, doch Raymond schien ungerührt.

»Mary«, sagte er, »die Zeit ist gekommen. Du kannst völlig frei entscheiden. Bist du bereit, dich mir ganz anzuvertrauen?«

»Ja, Lieber.«

»Hören Sie, Clarke? Sie sind mein Zeuge. Hier ist der Stuhl, Mary. Es geht ganz leicht. Setz dich nur und lehn dich zurück. Bist du bereit?«

»Ja, Lieber, ganz bereit. Gib mir einen Kuß, ehe du anfängst.«

Der Doktor neigte sich hinab und küßte sie, freundlich genug, auf den Mund. »Nun schließ die Augen«, sagte er. Das Mädchen tat die Lider zu, als sei es müde und sehne sich nach Schlaf, und Raymond hielt ihm die grüne Phiole vor das Gesicht.