Im ganzen neige ich zu letzterer Ansicht, da die Sache anscheinend wichtig war und es unwahrscheinlich ist, daß jemand, der einen solchen Brief zusammenfügt, unachtsam gewesen sein soll. Wenn er in Eile war, so stellt sich die interessante Frage, warum; da jeder Brief, auch wenn er erst in aller Frühe desselben Tages aufgegeben würde, Sir Henry erreicht hätte, ehe er das Hotel verließ. Fürchtete der Verfasser eine Unterbrechung – und durch wen?«

»Nun kommen wir in den Bereich des bloßen Ratens«, warf Dr. Mortimer ein.

»Sagen wir lieber, in den Bereich, wo wir Wahrscheinlichkeiten gegeneinander abwägen und die glaubhafteste aussuchen. Das ist die wissenschaftliche Nutzung der Phantasie, aber wir haben immer eine wirkliche Basis, auf der wir unsere Vermutungen aufbauen können. Sie nennen es bestimmt Raten, aber ich bin beinahe sicher, daß diese Adresse in einem Hotel geschrieben worden ist.«

»Wie in aller Welt können Sie das behaupten?«

»Wenn Sie die Adresse genau betrachten, werden Sie finden, daß sowohl Tinte als auch Feder dem Schreiber Schwierigkeiten gemacht haben. Die Feder hat zweimal in einem einzigen Wort gespritzt und ist dreimal in der kurzen Adresse ausgetrocknet, ein Beweis, daß sehr wenig Tinte im Tintenfaß war. Nun ist eine eigene Feder oder ein eigenes Tintenfaß selten in einem so vernachlässigten Zustand, und beides zugleich ist ein großer Zufall. Aber Sie kennen Hoteltinte und Hotelfedern, sie sind fast immer so. Ja, ich zögere nicht, zu behaupten, daß, wenn wir die Papierkörbe der Hotels um Charing Cross herum durchsuchten, wir die Reste des verstümmelten Times-Leitartikels finden und sofort die Person des Täters feststellen könnten. Hallo! Hallo! Was ist denn das?«

Er untersuchte sorgfältig das Kanzleipapier, auf dem die Worte aufgeklebt waren, indem er es einen oder zwei Zoll vor seine Augen hielt.

»Nun?«

»Nichts«, sagte er; er ließ das Papier fallen. »Es ist ein leerer halber Bogen; nicht einmal mit Wasserzeichen. Ich glaube, wir haben aus diesem sonderbaren Brief alles herausgelesen, was möglich war; und nun, Sir Henry, ist Ihnen sonst etwas Interessantes zugestoßen, seit Sie in London sind?«

»Nein, Mr. Holmes, nicht, daß ich wüßte.«

»Sie haben nicht bemerkt, daß Sie jemand beobachtet oder verfolgt hätte?«

»Ich scheine ja geradezu mitten in einen Groschenroman hineingeplatzt zu sein«, sagte unser Besucher. »Warum, zum Donnerwetter, sollte jemand mich beobachten oder verfolgen?«

»Wir werden noch darauf zurückkommen. Sie haben uns also sonst nichts zu berichten, ehe wir auf diese Sache eingehen?«

»Nun, es hängt davon ab, was Sie wichtig genug fänden, um darüber zu sprechen.«

»Ich glaube, alles was aus dem Gewöhnlichen herausfällt, ist der Mühe wert, berichtet zu werden.«

Sir Henry lächelte. »Ich weiß noch nicht viel vom Leben in England; ich habe ja fast mein ganzes Leben in den Staaten und in Kanada verbracht. Aber ich hoffe, daß der Verlust eines Schuhs nicht zum Alltagsleben hier gehört.«

»Sie haben einen Ihrer Schuhe verloren?«

»Mein lieber Sir«, rief Dr. Mortimer, »der ist doch nur vertauscht worden. Sie werden ihn wiederfinden, wenn Sie in das Hotel zurückkehren. Was hat es für einen Sinn, Mr. Holmes mit solchen Kleinigkeiten zu belästigen?«

»Na, er hat mich doch nach allem gefragt, was aus dem normalen Rahmen fällt.«

»Genau«, sagte Holmes, »so närrisch der Zwischenfall auch scheinen mag. Sie haben also einen Ihrer Schuhe verloren?«

»Nun, jedenfalls verlegt. Ich habe sie gestern abend beide vor meine Tür gestellt, und heute früh war nur der eine da. Ich konnte aus dem Burschen, der sie geputzt hat, nichts herausbringen. Das Dümmste daran ist, daß ich sie erst gestern abend auf The Strand gekauft und noch nicht getragen habe.«

»Wenn Sie sie noch nicht getragen hatten, warum haben Sie sie dann zum Reinigen hinausgestellt?«

»Es waren hellbraune Schuhe, noch nie mit Schuhcreme behandelt. Deshalb habe ich sie hinausgestellt.«

»Ich verstehe Sie also recht, daß Sie gestern nach Ihrer Ankunft in London sofort ausgegangen sind und ein Paar Schuhe gekauft haben?«

»Ich habe einiges eingekauft. Dr. Mortimer hat mich dabei begleitet. Wissen Sie, wenn ich da unten schon Landedelmann sein soll, muß ich mich entsprechend kleiden, und es kann sein, daß ich im Westen etwas nachlässig geworden bin.