Die Uhr, sie spricht:
Vergiß–mich–nicht!‹ Ich will
nicht, daß Sie mich vergessen.«
Mr. Hobbs machte abermals energischen Gebrauch von seinem
Taschentuche.
»Ich werde dich auch nicht vergessen,« sagte
er und seine Stimme klang ebenso merkwürdig heiser wie die von
Dick, »vergiß nur du mich nicht, wenn du unter die
englischen Aristokraten kommst.«
»Sie werde ich nicht vergessen, unter was
für Menschen ich auch komme,« versicherte der kleine
Lord. »Bei Ihnen bin ich immer am glücklichsten
gewesen, fast am glücklichsten, und ich hoffe, Sie besuchen
mich einmal. Mein Großpapa würde sich ganz
gewiß furchtbar freuen; vielleicht schreibt er Ihnen selbst
und ladet Sie ein, wenn ich ihm alles erzähle. Und –
und nicht wahr, Sie würden dann nicht daran denken,
daß er ein Graf ist? Ich meine, Sie würden deshalb
doch kommen, wenn er Ihnen schreibt?«
»Ich würde dir zuliebe kommen,«
erklärte Mr. Hobbs huldvoll, und damit war zugestanden,
daß er im Falle einer dringenden Einladung von seiten des
Grafen seine republikanischen Vorurteile überwinden, sein
Bündel schnüren und ein paar Monate auf
Schloß Dorincourt zubringen würde.
Endlich waren alle Vorbereitungen abgethan. Der Tag erschien,
an dem die Koffer an Bord geschafft wurden, und die Stunde, da der
Wagen vor der Hausthür hielt. Ein seltsames Gefühl
von Einsamkeit und Verlassenheit überkam dann den kleinen
Jungen. Die Mutter hatte sich ein paar Stunden in ihrem Zimmer
eingeschlossen gehabt, und als sie nachher die Treppe herabkam, waren
ihre Augen naß und ihr lieblicher Mund bebte seltsam. Cedrik
eilte ihr entgegen, sie beugte sich zu ihm nieder, und er schlang seine
Aermchen um ihren Hals und küßte sie. Was es war,
wußte er nicht recht, aber er fühlte, daß
sie beide traurig waren, und unwillkürlich kam's ihm auf die
Lippen: »Gelt, Herzlieb, wir haben unser kleines Haus lieb
gehabt? Und wir werden's immer lieb behalten?«
»Ja, ja,« versetzte sie mit leiser Stimme.
»Ja, mein Herzenskind.«
Und dann stiegen sie in den Wagen und Ceddie setzte sich ganz
nahe zu seiner Mama, sah sie unverwandt an, hielt ihre Hand fest und
streichelte sie ganz leise, indes sie nach dem verödeten Hause
zurückblickte.
Unglaublich kurze Zeit darauf befanden sie sich auf dem
Dampfer, mitten im wildesten Lärm und Getriebe. Wagen fuhren
an und setzten Passagiere ab, Reisende gerieten in Verzweiflung
über ihr Gepäck, das noch nicht da war und
möglicherweise zu spät kam, Reisekoffer und Kisten
wurden hin und her gezerrt und geschleppt, Matrosen rollten Taue auf
und eilten ab und zu, Befehle wurden erteilt, Damen und Herren, Kinder
und Kinderfrauen kamen an Bord, die einen lachend und
fröhlich, die andern still und gedrückt, einzelne mit
Thränen in den Augen. Ueberall entdeckte Cedrik etwas
Interessantes; die Berge von Tauen, die aufgerollten Segel, die in den
blauen Himmel hineinragenden Masten, alles fesselte seine
Aufmerksamkeit, und er nahm sich fest vor, mit den Matrosen
Freundschaft zu schließen und womöglich
Näheres über Seeräuber zu erfahren.
Gerade im allerletzten Augenblicke – Cedrik stand am
Geländer des oberen Deckes, beobachtete die Zeichen zur
Abfahrt und erfreute sich an den Zurufen der Matrosen und der Leute auf
dem Damme – bemerkte er in einer wenige Schritte von ihm
entfernten Gruppe einen kleinen Kampf. Jemand drängte sich mit
Gewalt durch und zwar in seiner Richtung, es war ein Junge, der etwas
Rotes in der Hand hielt – Dick! Ganz atemlos gelangte er
endlich in Cedriks Nähe.
»Bin ich gelaufen,« keuchte er,
»wollte dich doch abfahren sehen. Geschäft ist prima.
Von dem, was ich gestern gemacht, hab' ich das für dich
gekauft, kannst's brauchen, wenn du unter die feinen Leute kommst. Das
Papier habe ich verloren im Gedränge, die Kerls wollten mich
nicht 'rauf lassen, 's ist ein Taschentuch.«
In einem Atemzuge stieß er den Satz heraus, und ehe
Cedrik Zeit hatte, etwas zu erwidern, erklang das letzte Zeichen, und
mit einem gewaltigen Satze flog Dick davon.
»Leb wohl!« rief er noch. »Trag's,
wenn du zu den Vornehmen kommst!« und damit war er
verschwunden.
Ein paar Sekunden darauf sah man ihn sich auf dem unteren
Decke durch die Leute drängen und in dem Augenblicke, ehe die
Planke weggezogen ward, sprang er ans Ufer und schwenkte seine
Mütze.
Cedrik hielt sein hochrotes, seidenes Tuch, das mit ungeheuern
dunkelblauen Hufeisen und Pferdeköpfen geschmückt
war, in der Hand. Allgemeines Durcheinanderrennen und großer
Tumult entstand. Vom Dampfer hinüber und herüber von
den am Ufer Stehenden klangen die Rufe: »Leb wohl, altes Haus!
Leb wohl! Leb wohl! Vergiß uns nicht. Nicht wahr, du schreibst
von Liverpool? Gute Fahrt! Leb wohl!«
Der kleine Lord Fauntleroy beugte sich weit hinaus und
ließ sein rotes Tuch flattern.
»Leb wohl, Dick!« rief er, so laut er
konnte. »Ich danke dir! Leb wohl, Dick.«
Und das mächtige Schiff setzte sich langsam in
Bewegung, die Leute riefen Hurra, Cedriks Mutter zog den Schleier vors
Gesicht, auf dem Damme herrschte große Bewegung, Dick aber sah
von alledem nichts, als das liebliche Kindergesicht mit seinem blonden
Heiligenschein, auf den die Sonne fiel, und hörte nichts, als
die herzliebe, frische Stimme, die immer wieder: »Leb wohl,
Dick!« rief. So segelte der kleine Lord Fauntleroy von seinem
Heimatlande weg in die ihm fremde Welt seiner Ahnen.
Viertes Kapitel
In England
Unterwegs teilte die Mutter ihrem Lieblinge mit, daß
sie in Zukunft nicht mehr zusammenleben würden. Es kostete
Mühe, bis er sich von einer solchen Möglichkeit
überzeugen ließ, und sein Jammer darüber war
so grenzenlos, daß Mr. Havisham im stillen nur den
glücklichen Gedanken des Grafen, die Mutter in der
Nähe wohnen zu lassen, pries, denn ohne diesen Trost
hätte das Kind die Trennung schwerlich ertragen. Die Mutter
that alles, um ihm die Vorstellung freundlicher zu machen, und
tröstete ihn so herzlich und erzählte ihm immer
wieder, wie nah sie ihm sein werde, daß ihm der Gedanke
allmählich weniger schrecklich erschien.
»Mein Haus ist gar nicht weit vom Schlosse,
Ceddie,« sagte sie, so oft die Rede darauf kam, »ganz
nahe sogar, und du kannst immer herüberlaufen und nach mir
sehen. Und denke dir nur, wieviel du mir dann zu erzählen
haben wirst, und wie glücklich wir miteinander sein werden.
Ach, es muß ja so schön dort sein! Wie oft hat mir
dein Papa alles beschrieben. Ihm war das Schloß ganz ans Herz
gewachsen, und du wirst es auch bald lieb gewinnen.«
»Wenn du auch dort wärst, dann
wohl,« versetzte der betrübte kleine Lord mit einem
tiefen Seufzer.
Es war ja ganz natürlich, daß ihm eine
Einrichtung, die ihn von »Herzlieb« trennte, als
etwas sehr Widersinniges und Unbegreifliches erschien.
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