Mrs. Errol hielt
es zudem für richtig, ihn über die Gründe
dieser Trennung nicht aufzuklären.
»Verstehen könnte er es doch
nicht,« sagte sie zu Mr. Havisham, »es würde
ihn also nur alterieren und beängstigen, und ich bin
überzeugt, daß er sich weit eher an seinen
Großvater anschließt, wenn er nicht weiß,
daß dieser einen Widerwillen gegen mich hat. Haß und
Bitterkeit sind ihm ganz fremd, und ich glaube, der Gedanke,
daß jemand mich haßt, würde ihn
unglücklich machen! Sein Herz ist voll Liebe! Es ist viel
besser, wenn er das alles erst später erfährt
– viel besser im Interesse des Grafen namentlich, denn dies
Bewußtsein würde eine Scheidewand zwischen ihm und
dem Großvater bilden, wenn Ceddie auch noch ein Kind
ist.«
Cedrik erfuhr also nur, daß diese Trennung aus
Gründen, die er noch nicht verstehen könne,
beschlossen sei, und daß er später einmal alles
erfahren und begreifen werde. Das machte ihn wohl nachdenklich, allein
schließlich war es ihm ja weniger um die Gründe, als
um die Sache zu thun, und nachdem ihm sein Mütterchen wieder
und wieder die Zukunft im rosigsten Lichte ausgemalt hatte, fingen
seine Bedenken an schwächer zu werden, obgleich Mr. Havisham
ihn noch mehr als einmal in einer seiner wunderlich
altväterischen Stellungen dasitzen und aufs Meer hinausstarren
sah, wobei sich mancher Seufzer aus seiner Brust stahl, der viel zu
ernsthaft klang für ein Kind.
»Es gefällt mir gar nicht,« sagte
er in einem seiner ehrbaren Gespräche mit dem Advokaten.
»Sie glauben nicht, wie wenig mir die Sache gefällt,
aber es gibt ja viel Kummer auf der Welt, den man eben ertragen
muß. Das sagt Mary immer, und auch Mr. Hobbs hab' ich das
sagen hören. Und Herzlieb will, daß ich gern zum
Großpapa gehen soll, weil all' seine Kinder tot sind und das
sehr traurig ist. Natürlich thut einem ein Mann leid, der all'
seine Kinder verloren hat – und eins war so
plötzlich tot.«
Wer Seine kleine Herrlichkeit kennen lernte, fand die altkluge
Weisheitsmiene, die er gelegentlich in der Unterhaltung aufsetzte,
bezaubernd: wenn man dabei in sein unschuldiges rundes Gesichtchen sah,
hatten die weisen Bemerkungen einen unwiderstehlichen Reiz, und wenn
der hübsche, blühende, goldlockige kleine Mann sich
hinsetzte, die Hände ums Knie schlang und sich mit
großer Würde unterhielt, war er das
Entzücken seiner Umgebung und namentlich fand Mr. Havisham
jeden Tag mehr Freude an ihm.
Als der minder glückliche Teil der Passagiere, der,
welcher der Seekrankheit seinen Tribut zu bezahlen gehabt hatte, wieder
auf Deck sichtbar ward und sich auf den bequemen Stühlen
niederließ, schien auch kein einziger darunter zu sein, der
die merkwürdige Geschichte des kleinen Lord Fauntleroy nicht
kannte, und jedermann interessierte sich für den Jungen, der
sich überall herumtrieb, wenn er nicht gerade mit seiner
Mutter und dem steifen alten Engländer auf und ab ging oder
mit den Matrosen plauderte. Mit allen schloß er Freundschaft,
wozu er ja stets bereit war. Hatte er sich einer Gruppe von Herren
angeschlossen, so marschierte er mit großen, festen Schritten
neben ihnen her und ging bereitwillig auf jeden Scherz ein; war er im
Kreise der Damen, so war des fröhlichen Lachens kein Ende, und
spielte er mit den Kindern, so war das Spiel immer ganz besonders
lebendig und lustig.
Seine Hauptfreunde aber waren die Matrosen – er
erfuhr die wunderbarsten Geschichten von Seeräubern,
Schiffbruch und einsamen, menschenleeren Inseln, er lernte Taue
splissen und kleine Schiffe auftakeln, und erwarb sich in Bezug auf
Topsegel und Mainsegel eine erstaunliche Gelehrsamkeit. Seine Redeweise
bekam einen entschiedenen Anflug von Teerjackentum, und er rief einmal
unauslöschliches Gelächter hervor, als er sich an
einem kühlen Morgen, wo Damen und Herren sich warm
eingehüllt hatten, mit der liebenswürdigsten Miene
von der Welt und weicher Stimme äußerte: »Da
fahr' mir doch gleich der Klabautermann in die Planken, heut ist's
frisch.«
Er war sehr überrascht, daß diese
seemännische Bemerkung solche Heiterkeit hervorrief; er hatte
sie von einem älteren Seehelden, Namens Jerry, vernommen, in
dessen Erzählungen sie öfter wiederkehrte. Jerry
mußte, nach seinen Beschreibungen zu schließen,
mindestens zwei- oder dreitausend Fahrten gemacht haben, wobei er
unfehlbar jedesmal Schiffbruch gelitten und an ein mit Menschenfressern
bevölkertes Eiland verschlagen worden war; daß ihm
bei solchen Gelegenheiten mehr als einmal passiert war, teilweise
gebraten und vollständig aufgezehrt und etliche zwanzigmal
skalpiert zu werden, verstand sich von selbst.
»Deshalb hat er gar keine Haare mehr,«
erklärte Lord Fauntleroy seiner Mama. »Wenn man ein
paarmal skalpiert worden ist, wächst das Haar nie mehr. Jerry
seins kam nicht wieder, nach dem letzten Mal, als ihn der
König der Parromachaweekins mit einem Messer, das aus dem
Schädel des Häuptlings der Wopslemumpkies gemacht
war, skalpiert hatte. Er sagt, das sei fast das Schlimmste gewesen, was
ihm je vorgekommen, und seine Haare seien ihm ganz zu Berge gestanden,
wie der König das Messer wetzte, und hätten sich auch
nachher nicht mehr gelegt, und der König trage nun den Skalp
so, und er sehe aus wie eine Haarbürste. Nein, was
für ›Verlebnisse‹ dieser Jerry gehabt hat!
Ich wollt', ich könnte Mr. Hobbs alles
erzählen!«
Zuweilen, wenn das Wetter schlecht war und man im Salon
beisammen saß, gab Cedrik, der immer bereit war, das Seinige
zur Unterhaltung beizutragen, Jerrys »Verlebnisse«
preis, wobei er sehr aufmerksame Zuhörer fand.
»Jerrys Geschichten 'tressieren alle so,«
sagte er dann zu seinem Mütterchen. »Manchmal denke
ich beinahe – du mußt nicht böse sein,
Herzlieb – es könnte nicht alles dran wahr sein,
aber doch hat Jerry es selbst erlebt, aber, weißt du,
vielleicht weiß er's hier und da nicht mehr so genau, weil er
so oft skalpiert worden ist. Skalpiert werden, davon kann man ein
schlechtes Gedächtnis kriegen.«
Elf Tage, nachdem er Dick sein Lebewohl zugerufen hatte, traf
der kleine Lord in Liverpool ein, und am Abend des zwölften
Tages fuhr der Wagen, der ihn, seine Mutter und Mr. Havisham an der
Bahn abgeholt hatte, an Court Lodge vor.
Mary, die zu Mrs. Errols Bedienung mit
herübergekommen war, hatte das Haus schon etwas
früher erreicht, und als Cedrik aus dem Wagen sprang, sah er
einige Dienstboten in der glänzend erleuchteten Halle stehen,
Mary aber unter der Hausthür. Mit einem fröhlichen
Ausrufe eilte er auf sie zu und küßte sie auf die
knallroten Wangen.
»Bist du schon da, Mary? Herzlieb, Mary ist
da!«
»Ich bin froh, daß Sie da sind,
Mary,« sagte Mrs. Errol halblaut zu ihr. »Ich
fühle mich weit weniger fremd, nun ich ein bekanntes Gesicht
um mich habe.« Dabei reichte sie ihr die schmale Hand, die
Mary kräftig schüttelte. Ach, sie verstand wohl, wie
der jungen Frau zu Mute sein mußte, die ihre Heimat verlassen
hatte und nun ihr Kind hergeben sollte.
Die englischen Dienstboten beobachteten Mutter und Sohn mit
großer Neugierde. Alle möglichen Gerüchte
waren natürlich über die beiden im Umlauf; jedermann
wußte, weshalb Mrs.
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