Für gewöhnlich bereitete es ihm keine Schwierigkeiten, alle nur möglichen Schlußfolgerungen zu ziehen, wenn er – wie in diesem Fall – einen Anhaltspunkt hatte. Geduldig bearbeitete er dann eine Angelegenheit tage- und wochenlang. Es machte ihm auch nichts aus, wenn Monate und selbst Jahre daraus wurden. Aber hier hatte er zwar Anhaltspunkte genug, doch verwirrte ihn der Umstand, daß es sich um zwei verschiedene Fälle handelte, die einander zwar in allen Einzelheiten glichen, doch sonst auf keinen gemeinsamen Nenner zu bringen waren. Obwohl er hin und her überlegte, fand er keine Lösung.

Die Ruhe in seinen Räumen tat ihm wohl. Nur gedämpft drang der Verkehrslärm der Straße durch die dicken Mauern.

Mr. Reeder hatte hier, in der Stille seines Arbeitszimmers, die besten Einfälle. Manchmal saß er die ganze Nacht vor seinem Schreibtisch, baute Theorien auf, brachte sie selbst wieder zum Einsturz und errichtete schließlich ein logisches Gedankengebäude, das meistens den Schlußpunkt hinter die Laufbahn irgendeines Verbrechers setzte.

Besuch erhielt er kaum. Er war privat nicht sehr umgänglich und hatte deshalb auch keine Freunde. Die Leute in der Umgebung wußten kaum, was sie von ihm halten sollten; die meisten nahmen an, daß er längst pensioniert worden wäre.

So saß er denn jeden Abend vor seinem großen Schreibtisch bei einer Tasse Tee und einer Platte mit belegten Broten. Es war an diesem Abend nicht anders als sonst, nur, daß ihm heute beim besten Willen kein guter Gedanke zu kommen schien.

 

Der Verkehr auf der Hauptstraße, die sich unweit der Brockley Road hinzog, hatte um diese Abendstunde seinen Höhepunkt erreicht. Bei dem allgemeinen Durcheinander achtete zuerst keiner der vielen Passanten auf die ungewöhnliche Erscheinung eines Mannes, der plötzlich mitten auf der Fahrbahn stand; ein Taxichauffeur konnte gerade noch den Wagen zur Seite reißen, sonst hätte er ihn überfahren.

Der merkwürdige Passant trug einen Morgenrock über einem Schlafanzug und lief von einer Straßenseite zur anderen. Er hatte keine Schuhe an und war ohne Hut. Mit unglaublicher Schnelligkeit eilte er die Straße entlang und bog in die Brockley Road ein. Niemand hatte gesehen, woher er kam.

Ein Polizist versuchte ihn anzuhalten, aber es gelang ihm nicht. Der Mann lief durch die Brockley Road, bis er vor Mr. Reeders Haus stand. Dort zögerte er kurz und schaute zu den erleuchteten Fenstern des Arbeitszimmers hinauf. Dann öffnete er das Gartentor und eilte zur Haustür.

Mr. Reeder hörte draußen Schreien und Lärmen, ging zum Fenster und sah hinaus. Er bemerkte den Fremden, der in größter Hast die Stufen zur Tür hinaufsprang. Gleich darauf hielt ein Motorradfahrer vor dem Gartentor, um das sich bereits eine kleine Menschenmenge ansammelte. Erst glaubte Mr. Reeder, daß der Knall, den er hörte, von einer Fehlzündung des Motors herrührte, mußte dann aber zu seinem Entsetzen feststellen, daß es ein Schuß war, dem noch mehrere folgten.

Der Motorradfahrer hatte aus einer Pistole gefeuert und jagte nun davon, ohne daß ihn jemand aufhalten konnte.

Reeder eilte die Treppen hinunter und riß die Haustür auf – ein Polizist kam eben in den Garten. Der Mann, der auf der obersten Stufe lag, trug einen auffallend bunt gemusterten Morgenrock.

Sie brachten ihn in den Hausflur, und Mr. Reeder knipste das Licht an. Ein Blick sagte ihm, was geschehen war.

Der Polizist drängte die Neugierigen zurück, schloß die Tür und kniete neben dem Mann nieder.

»Ich fürchte, er ist tot«, sagte Mr. Reeder, als er den Morgenrock öffnete und die schweren Wunden sah.

»Der Motorradfahrer hat ihn niedergeknallt, ich habe es deutlich gesehen«, erwiderte der Polizist aufgeregt. »Er hat vier Schüsse abgegeben.«

Reeder untersuchte den Mann, der etwa dreißig Jahre alt sein mochte, eingehend. Das Haar des Fremden war tiefschwarz, sein Gesicht glattrasiert – und er hatte keine Augenbrauen, wie Mr.