Ein andermal machte sich solch geheimnisvolle
Zusammengehörigkeit hartnäckig fühlbar, wenn eine würdige Matrone mit
frommem Stirnrunzeln vorüberging, die nach allem, was man von ihr zu
sagen wußte, ihr Leben lang rein und kalt geblieben war wie frischer
Schnee. Jene unberührte Kälte – und Hesters glühende Schande,
was hatten sie miteinander zu tun? Und wieder einmal durchzuckte es
Hester wie ein elektrischer Schlag: „Sieh doch, eine Genossin deiner
Schuld!“ Sie blickte auf und bemerkte, wie ein junges Mädchen mit
scheuem Blick den scharlachroten Buchstaben streifte und mit leichtem
Erröten sich schnell wieder abwandte, als fürchte es, sich zu
beflecken. Welch böser Zauber wirkte in Hester, der ihr alles Vertrauen
in menschliche Tugend, sei es in jung oder alt, so grausam zerstören
wollte? Sie, die ihrer eigenen Schwachheit und dem harten Gesetz ihrer
Zeit zum Opfer gefallen war, rang um den Glauben an die
Tugendhaftigkeit der anderen mit der ganzen Kraft ihrer gequälten Seele.
Das Volk, das in jenen düsteren, alten Tagen seiner
Einbildungskraft gerne die Zügel schießen ließ, wußte von dem
scharlachroten Buchstaben bald eine Geschichte zu erzählen, die zu
einer schaurigen Legende wurde. Man glaubte, daß das Zeichen nicht aus
gewöhnlichem Stoffe wäre, mit irdischer Farbe getränkt, sondern daß es
von höllischem Feuer erglühe und weithin gesehen werden könne, wann
immer Hester Prynne durch die dunkle Nacht ginge. Und fürwahr, es
brannte so tief in Hesters Brust, daß in diesem Gerüchte mehr Wahrheit
war, als wir vielleicht heute glauben würden.
6.
DAS KIND
Wir haben bisher noch kaum von dem Kinde
gesprochen, dem kleinen Geschöpf, dessen unschuldiges Leben wie eine
zarte Blüte üppiger Fruchtbarkeit jener dunklen Leidenschaft
entsprossen war. Wie wunderbar war es doch für die einsame Frau, das
Wachstum dieses Kindes zu beobachten, seine Schönheit, die mit jedem
Tage strahlender wurde, seine Vernunft, deren erste Anzeichen bereits
wie spielende Sonnenstrahlen über das zarte Gesichtchen huschten. Ihr
Kind, ihre Perle! – Denn so hatte Hester das Mädchen benannt,
nicht weil sein Aussehen etwa dem sanften, leidenschaftslosen Glanz
einer Perle glich, sondern um auszudrücken, daß es ihr einziger und
köstlichster Besitz war, für den sie alles hingegeben hatte, was einst
ihr Eigen gewesen war. – Wie wunderbar! Die Menschen hatten
dieser Frau für ihre Schuld das Zeichen der Schmach an die Brust
geheftet, dessen mächtige und unheilvolle Gewalt keine Teilnahme, kein
Mitgefühl an sie heranließ. Gott aber hatte aus derselben Sünde heraus,
die von den Menschen so hart bestraft worden war, dieses Kind zum Leben
erweckt und es ihr an die entehrte Brust gelegt, um sie dadurch für
immer mit dem Geschlecht der Sterblichen zu verbinden und schließlich
teilhaben zu lassen an der himmlischen und ewigen Gnade! Doch solche
Gedanken erregten in Hester Prynne bisweilen mehr Befürchtungen als
Hoffnungen. War doch ihr Tun böse gewesen, wie konnte sie da glauben,
daß dessen Folgen zum Guten gedeihen würden? Tag um Tag beobachtete sie
daher die sich entwickelnde kindliche Natur mit wachsender Besorgnis,
immer fürchtend, eine dunkle, seltsame Eigentümlichkeit zu entdecken,
die seiner schuldbeladenen Herkunft entspräche.
Von einem körperlichen Gebrechen zeigte sich indes keine Spur,
das gesunde, kräftige Körperchen und die schön geformten Glieder waren
voll natürlicher Behendigkeit und ließen keinen Wunsch offen. Dazu
besaß das Kind jene seltsame Anmut, die keineswegs immer mit
körperlicher Schönheit gepaart ist. Auch im einfachsten Kleidchen sah
es so hübsch aus, als könnte ihm nichts anderes besser stehen. Doch
brauchte es keine ärmlichen Kleider zu tragen. Seine Mutter kaufte ihm
die ausgesuchtesten Stoffe und ließ bei der Herstellung der Kleidchen
ihrer kunstvollen Phantasie völlig freies Spiel, so daß das Kind in
seiner frischen Schönheit stets wie von einem Leuchten umgeben war,
welches das dunkle Wohngemach strahlend erhellte. Das Wesen dieses
Mädchens zeugte von einer unendlichen Mannigfaltigkeit und umspannte
alle Stufen des Liebreizes, von der wilden Frische eines Bauernmädchens
angefangen bis zur kindlichen Würde einer kleinen Prinzessin. In allem
aber war ein gewisser Zug von Leidenschaftlichkeit, ein tiefes Glühen
der Farbe, das sich nie verlor. Wäre sie in einer ihrer Verwandlungen
einmal blasser, weniger lebensvoll erschienen, sie wäre nicht mehr sie
selbst, nicht mehr die kleine Perle gewesen.
Diese äußerliche Wandelbarkeit war im Grunde genommen nur das
getreue Abbild ihres inneren Lebens. Es fehlte ihrer beweglichen Natur
nicht an Tiefe, doch schien es Hesters besorgtem Herzen, als zeige sie
nur wenig Neigung, sich der Welt, in der sie geboren war, einzufügen
und anzupassen. Das Kind konnte nicht dazu gebracht werden, sich einem
Gebote unterzuordnen. Am Ursprünge seines Seins stand die Mißachtung
eines Gesetzes – nun war hier ein Wesen entstanden, dessen
Elemente wohl schön und glänzend waren, das jedoch aller Ordnung
widerstrebte – oder nach einer ihm eigenen Ordnung lebte,
deren Gesetze unverständlich waren.
Hester konnte den Charakter des Kindes nur so zu ergründen
versuchen, daß sie sich ihren eigenen Zustand während jener Zeit, da
sie es ungeboren unter ihrem Herzen getragen hatte, in die Erinnerung
zurückrief. Leidenschaftliche Erregung ihres Herzens, ihres ganzen
Wesens, war der Mutterboden für das Wachstum dieser kindlichen Seele
gewesen, die ganze zehrende Glut, die tiefen Schatten und grellen
Lichter ihres damaligen Zustandes waren in dem Kinde wieder lebendig
geworden. Sie erkannte ihre eigene wildtrotzige Verzweiflung und selbst
die dunklen Schatten der Schwermut wieder, die damals auf ihrem Herzen
gelastet hatten. Noch waren sie in dem Kinde vom Übermut der Jugend
überdeckt, doch welche Stürme mochten daraus im weiteren Verlaufe
dieses Lebens noch erwachsen?
Die Zucht innerhalb der Familie war zu jener Zeit bedeutend
strenger als heutzutage. Ermahnungen, bitterer Tadel und selbst heftige
Verwendung der Rute waren nicht nur ein Mittel der Strafe, sondern
galten als wirksame Förderung der kindlichen Tugend überhaupt. Hester
Prynne nun, diese einsamste Mutter eines einzigen Kindes, lief gewiß
nicht Gefahr, in übertriebene Strenge zu verfallen, doch versuchte sie
schon früh, eingedenk ihrer eigenen Schwäche und Fehler, die ihr
anvertraute kindliche Seele mit mildem Ernste zu führen. Allein diese
Aufgabe ging über ihre Kräfte. Nachdem sie sowohl Güte wie Strenge
vergebens versucht hatte und weder auf die eine noch andere Weise einen
beachtenswerten Einfluß hatte ausüben können, mußte sie das Kind
schließlich seiner eignen Natur überlassen. Körperlicher Zwang und
Strafen waren dabei zwar wirksam, doch nur so lange sie dauerten. Jeder
anderen Beeinflussung jedoch, mochte es eine Bitte oder Ermahnung sein,
zeigte sich das Kind bald zugänglich, bald völlig unzugänglich, je nach
der Laune, die es gerade beherrschte.
Die Mutter kannte gar bald jenen eigentümlichen Ausdruck in
seinem Gesichtchen, der ihr deutlich sagte, daß es nun völlig vergebens
wäre, das Kind zu etwas überreden oder zwingen zu wollen. Es war ein
seltsamer Ausdruck von Klugheit, unerklärlich und rätselhaft, manchmal
widerspenstig und eigensinnig bis zur Bosheit, gewöhnlich jedoch
begleitet von so ausgelassener Lustigkeit, daß sich Hester in solchen
Augenblicken oft fragte, ob dies denn wirklich ein Menschenkind sei und
nicht ein ungreifbarer, elfischer Spuk, der mit ihr seine neckischen
Spiele trieb, um gleich darauf mit spöttischem Kichern zu entfliehen.
Eine unerklärliche Fremdheit und Unnahbarkeit kam in solchen
Augenblicken über das Kind, als gehöre es gar nicht dieser Erde an und
würde im nächsten Augenblick verschwinden wie ein Lichtschimmer, der
kommt und geht, niemand weiß, woher noch wohin. Hester stürzte dann
wohl auf das Kind zu und preßte es unter glühenden Küssen an ihre
Brust, nicht so sehr aus überströmender Zärtlichkeit, sondern um sich
zu vergewissern, daß Perle doch aus lebendigem Fleisch und Blute sei
und nicht ein trügerischer Geist.
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