In dieser Absicht schickte er sein Weib voraus, während er zurückblieb, um noch einige notwendige Angelegenheiten zu ordnen. Doch in diesen nun fast zwei Jahren, während die Frau hier in Boston wohnte, kam keinerlei Nachricht mehr von dem Gelehrten, Herrn Prynne. Sein junges Weib aber, Ihr seht ja, kaum sich selbst überlassen …“

„Aha – ich verstehe!“ sagte der Fremde bitter lächelnd. „Ein so gelehrter Herr, wie Ihr ihn nennt, hätte allerdings auch das aus seinen Büchern lernen sollen! Doch wer, mit Verlaub, mag wohl der Vater jenes Kindes sein, das Frau Prynne in ihren Armen hält? Es ist etwa drei oder vier Monate alt, schätze ich.“

„Ja, mein Freund, diese Frage bleibt ein Rätsel“, antwortete der Bürgersmann. „Madame Hester verweigert darüber absolut jede Auskunft und die Richter haben sich schon umsonst die Köpfe zerbrochen. Wer weiß, ob der Schuldige nicht als Zuschauer dieses traurigen Schauspiels hier in der Menge steht, unerkannt von den Menschen, doch ebenso schuldig wie jenes Weib vor den Augen Gottes!“

„Der Gelehrte“, bemerkte der Fremde abermals lächelnd, „sollte eben selbst kommen, um das Geheimnis zu lüften.“

„Das stünde ihm wohl zu, wenn er noch am Leben ist“, gab der andere zurück. „Unsere Richter aber haben gedacht, daß dieses junge und hübsche Weib zweifellos starken Versuchungen erlegen ist und außerdem ihr Gatte höchstwahrscheinlich längst am Grunde des Meeres ruht. So haben sie nicht die ganze Strenge unseres Gesetzes gegen sie in Anwendung gebracht. Die Strafe für ihr Vergehen war der Tod. Doch in ihrer Barmherzigkeit und Milde haben unsere weisen Richter Hester Prynne bloß dazu verurteilt, drei Stunden lang zur öffentlichen Schande am Pranger zu stehen und dann für den Rest ihres Lebens ein Zeichen der Schmach an ihrer Brust zu tragen.“

„Ein weises Urteil!“ äußerte sich der Fremde und nickte ernst. „So wird sie eine lebendige Predigt gegen die Sünde sein, bis der schimpfliche Buchstabe dereinst in ihren Grabstein eingemeißelt wird. Nichtsdestoweniger, es ärgert mich, daß ihr Mitschuldiger nicht wenigstens auch an ihrer Seite am Schandplatze steht. Doch man wird ihn finden! – Er wird erkannt werden! – Er wird erkannt werden!“

Er verbeugte sich höflich gegen den gesprächigen Bürger und flüsterte seinem Begleiter einige Worte zu, dann bahnten sich beide einen Weg durch die Menge.

Indessen war Hester Prynne, die Augen unverwandt auf den Fremden gerichtet, in völliger Versunkenheit dagestanden. Alle Welt um sie schien ausgelöscht und nur er blieb übrig, er und sie. Doch ein solches Zusammentreffen wäre wohl noch schrecklicher gewesen als das gegenwärtige: mit der glühenden Mittagssonne über ihr, die auf ihr Gesicht herniederbrannte, um ihre Schmach zu beleuchten, mit dem scharlachroten Zeichen der Schande an ihrer Brust und dem in Sünde geborenen Kinde in ihren Armen, mit dem ganzen gaffenden Volk um sie, das wie zu einem Feste versammelt war, um in ihr Gesicht zu starren, ihr Gesicht, das sie doch nur in der glücklichen Geborgenheit ihres Heimes oder hinter dem züchtigen Schleier in der Kirche hätte zur Schau tragen dürfen. So furchtbar es war, fühlte sie sich in der Gegenwart dieser tausend Zeugen doch irgendwie beschirmt. Es war besser, so dazustehen mit der Menge zwischen ihm und ihr, als ihm allein von Angesicht zu Angesicht gegenüberzutreten. Der öffentliche Schandpfahl war ihr eine Zufluchtsstätte und sie bangte vor dem Augenblick, wo ihr dieser Schutz entzogen würde.

In solche Gedanken eingesponnen, hörte sie kaum auf die Stimme, die hinter ihr schon mehrmals ihren Namen gerufen hatte und die sich nun mit lautem, ernstem Tone, hörbar der ganzen Zuhörerschaft, abermals an sie wandte:

„Hört auf mich, Hester Prynne!“

Wie schon erwähnt, befand sich unmittelbar über dem Podest, auf dem Hester Prynne stand, ein balkonähnlicher Vorbau der Kirche. Von dieser Stelle aus pflegten im Beisein der Ratsherren der Stadt und mit all dem feierlichen Zeremoniell jener Tage öffentliche Bekanntmachungen verkündet zu werden. Nun saß hier der Gouverneur Bellingham, von vier Wächtern mit Hellebarden umgeben, um in eigener Person dem Schauspiel beizuwohnen. Er trug eine dunkle Feder auf seinem Hute, einen Mantel mit breitem, gesticktem Saum und ein schwarzes Samtwams darunter, ein Mann von vorgeschrittenem Alter, dessen Züge die Spuren harter Lebenserfahrung trugen. Er war wohl geeignet, Oberhaupt und Vertreter dieses Gemeinwesens zu sein, welches seinen Ursprung und seine gegenwärtige, gedeihliche Entwicklung nicht so sehr der Kraft der Jugend, als der strengen und maßvollen Tätigkeit weisen Mannestumes und der ernsten Verständigkeit des Alters verdankte. Auch die anderen hohen Persönlichkeiten, die den Gouverneur umgaben, zeichneten sich durch eine würdevolle Haltung aus, wie sie jene Zeit forderte, welche die obrigkeitliche Gewalt völlig aus der Heiligkeit göttlicher Gesetzgebung herleitete. Es waren ohne Zweifel gute, gerechte und weise Männer; aber es wäre wohl nicht leicht gewesen, aus der ganzen menschlichen Familie noch einmal eine solche Auswahl weiser und tugendhafter Persönlichkeiten zu treffen, die weniger geeignet gewesen wären, über den Irrtum eines weiblichen Herzens zu Gericht zu sitzen und Gutes vom Bösen zu scheiden, als jene Richter, denen Hester Prynne nun ihr Antlitz zuwandte. Sie war sich dessen wohl auch bewußt, daß sie eher bei der gaffenden Menge auf ein warmes, mitfühlendes Hera rechnen dürfte als hier, denn als sie jetzt ihre Augen zum Balkon emporhob, erblaßte sie jäh und ein Zittern befiel sie.

Die Stimme, die sie gerufen hatte, war die des hochwürdigen und berühmten John Wilson, des ältesten Predigers der Stadt. Er war ein großer Gelehrter, wie die meisten seiner geistlichen Zeitgenossen, und dabei ein Mann von freundlicher, liebenswürdiger Gemütsart, jedoch glaubte er, diese letztere Eigenschaft weit weniger pflegen zu müssen als seine geistigen Fähigkeiten und hielt sie fast für eine tadelnswerte Schwäche. Da stand er, einen Kranz ergrauter Locken unter seinem Samtkäppchen, während seine grauen Augen, die an das gedämpfte Licht des Studierzimmers gewöhnt waren, in der grellen Sonne blinzelten wie die Augen von Hesters Kind. Er sah aus wie einer jener ehrwürdigen, dunklen Kupferstiche, die wir auf dem Titelblatte alter Predigtbücher sehen können, und hätte im Grunde genommen nicht mehr Recht gehabt als jene, sich in die Schuld, Qual und Leidenschaft eines lebendigen Menschenherzens einzumischen.

„Hester Prynne“, begann er, „Ihr hattet das Vorrecht, der kirchlichen Gemeinde meines jungen Amtsbruders hier anzugehören.“ Dabei legte er seine Hand auf die Schulter eines blassen, jungen Mannes, der an seiner Seite stand. „Ich habe ihn zu überreden versucht, Euch hier, angesichts des Himmels und im Beisein der weisen und gerechten Richter dieser Stadt sowie des versammelten Volkes die ganze Verworfenheit Eurer Sünde vorzuhalten. Er kennt Eure Gemütsart besser als ich und wird wissen, wie er, ob mit Milde oder Strenge, am ehesten Euren Trotz und Eure Verstocktheit zu überwinden vermag, so daß Ihr nicht mehr länger den Namen dessen verschweigt, der Euch in solche Schande gestürzt hat. In seiner übergroßen Milde jedoch entgegnete er mir, daß es der weiblichen Natur ein Unrecht antun hieße, wollte man Euch zwingen, Euer Geheimnis hier im hellen Tageslicht und vor dieser zahlreichen Menge preiszugeben. Doch die Schande liegt in der Begehung der Sünde, nicht in ihrem Bekenntnis! So frage ich noch einmal, Bruder Dimmesdale: wollt Ihr selbst Euch der Seele dieser armen Sünderin annehmen – oder soll ich es tun?“

Unter den würdigen Herren auf dem Balkon erhob sich ein Gemurmel, dem Gouverneur Bellingham alsbald Ausdruck verlieh, indem er sich mit gebieterischer, doch respektvoller Stimme an den jungen Prediger wandte:

„Euer Hochwürden“, sagte er, „die Verantwortung für die Seele dieser Frau liegt bei Euch! Euch geziemt es daher auch vor allen anderen, sie zur Buße zu bewegen und als deren Beweis und Folge zu dem Bekenntnis, das sie uns noch schuldet.“

Diese unmittelbare Anrede richtete die Augen der ganzen Menge nun auf den ehrwürdigen Bruder Dimmesdale, einen jungen Geistlichen, der, mit der ganzen Gelehrsamkeit seiner Zeit ausgerüstet, von einer der großen englischen Universitäten in dieses unwirtliche Waldland gekommen war. Seine Beredsamkeit und religiöse Glut hatten ihm bereits einen weit über sein Alter hinausgehenden Ruf gewonnen. Er war ein Mann von ungewöhnlichem Äußeren, mit einer weißen, hochgewölbten Stirn, dunkelbraunen, melancholischen Augen und einem Mund, dessen kaum merkliches Beben sowohl Tiefe des Empfindens wie Kraft der Selbstbeherrschung ausdrückte. Trotz seiner hohen, natürlichen Gaben und erworbenen Kenntnissen jedoch lag in dem Wesen dieses jungen Predigers etwas Ängstliches, Erschrecktes, Furchtsames – als fühle er sich im Irrgarten des menschlichen Lebens völlig verloren und könne sich nur in gänzlicher Abgeschiedenheit von der Welt wiederfinden.