Was sollte dies bedeuten? was wollte der Mann damit ausdrücken? etwa, daß für den, der nicht geweckt wird, kein neuer Tag anbrechen würde? Nacht war es, mütterlich ruhige Nacht, milde ihr Hauch, und mild war es, sich vorzustellen, daß sie ewig währen könnte; nein, der Sklave war unerwünscht, ebenso unerwünscht wie die Aussicht von ihm geweckt zu werden: «Du kannst dich zur Ruhe begeben...»

«Endlich», bemerkte der Knabe, als der Sklave die Türe hinter sich zugezogen hatte.

«Endlich, ja doch... nun aber zu dir, kleiner Führer... was machst du eigentlich noch hier? hast du ein Anliegen an mich? ich will es gerne erfüllen...»

Der kleine Führer stand auf gegrätschten Beinen da, das runde, etwas derbe und, man mußte es leider zugeben, eher unschöne Bauernjungengesicht ein wenig gesenkt, freilich auch ein wenig beleidigt, tolpatschig mit vorgeschobener Unterlippe: «Du willst auch mich fortschicken...»

«Die ändern habe ich fortgeschickt, dich nicht... dich frage ich bloß...»

«Du sollst mich nicht fortschicken...» Die rauhleise Jungenstimme klang vertraut, beinahe heimatlich ihr eigentümlich bäurischer Unterton. Die Stimme war wie ein fernes, kaum erinnerbares Einverständnis, war Einverständnis in einem unerforschlich fernen, mütterlichen Einst, von dem auch ein Wissen in den hellen Augen des Knaben glänzte.

«Ich habe nicht die Absicht, mich deiner zu entledigen, aber ich nehme an, daß es dich wie so viele andere zum Fest des Cäsars gedrängt hat...»

«Das Fest ist mir gleichgültig.»

«Alle Jungen wollen zum Fest; du bräuchtest dich dessen nicht zu schämen, und mein Dank für deine Führerschaft würde darum nicht geringer werden...»

Die Hände auf dem Rücken, wandte sich der Knabe ein bißchen hin und her: «Ich mag nicht zum Fest.»

«In deinem Alter wäre ich sicherlich hin gegangen, und sogar heute täte ich es noch, wenn ich gesünder wäre, aber gingest du an meiner Statt, es wäre mir fast, als würde ich selber daran teilnehmen... spaßig eingeschmuggelt in anderer Gestalt... sieh, hier sind Blumen; mach dir einen Kranz, der Augustus möge Gefallen an dir finden.»

«Ich will nicht.»

«Schade... was willst du denn?»

«Hier bei dir bleiben.»

Das Bild der Festhallen, in die der Junge hätte eingeschmuggelt werden sollen, um vor das Gesicht des Augustus zu treten, das Bild verflüchtigte sich: «Du willst bei mir bleiben...» «Immer.»

Ewigwährende Nacht, in der die Mutter waltet, das Kind hinschlummernd im Unveränderbaren, dunkelheitsschlummernd aus dem Dunkeln ins Dunkle, oh, süße Unveränderlichkeit des Immer.

«Wen suchst du?»

«Dich.»

Der Knabe irrte sich. Was wir suchen ist versunken, und wir sollen es nicht suchen, da es mit seiner Unauffindbarkeit uns nur verhöhnt.

«Nein, mein kleiner Führer, du hast mich geführt, doch nicht mich gesucht.» «Dein Weg ist der meine.»

«Von wo kommst du?»

«Du schifftest dich in Epirus ein.»

«Und du kamst mit mir?»

Ein Lächeln bejahte die Frage.

«Aus Epirus, aus Griechenland... indes, du sprichst die Sprache Mantuas.» Wiederum lächelte der Knabe: «Es ist deine Sprache.» «Die Sprache meiner Mutter.»

«Zum Gesang wurde die Sprache in deinem Munde.»

Gesang -, Sphärenluft, die sich selber singt, über alles Menschliche hinausreichend: «Warst du es, der auf dem Schiffe sang?»

«Ich lauschte.»

Oh, mütterlicher Gesang der Nacht, durchklingend durch die Nacht, seit jeher erklungen, immer gesucht, sooft der Tag angebrochen war: «Ich war so alt, wie du heute es bist, ja, sogar noch um ein weniges jünger, als ich meine ersten Verse schrieb, allerhand durcheinander... ja, so war es damals; ich mußte mich finden... meine Mutter war damals gestorben, nur der Klang ihrer Stimme war geblieben... nochmals, wen suchst du?» «Ich brauche nicht zu suchen, da du es tatest.»

«Stehe ich also doch an deiner Stelle, obwohl du nicht statt meiner zum Fest gehen willst? und schreibst du vielleicht ebenfalls Verse, wie ich es getan habe?»

Verneinend abweisende Lustigkeit zeigte sich in dem vertrauten Jungengesicht; auch die Sommersprossen auf der Nasenwurzel waren ein durchaus vertrauter Anblick.

«Also du schreibst keine Verse... ich hatte dich bereits im Verdacht, daß du einer von jenen wärest, die es darauf angelegt haben mir ihre Gedichte und Dramen vorzulesen...»

Der Knabe schien nicht begriffen zu haben, oder er kehrte sich nicht daran: «Dein Weg ist Dichtung, dein Ziel ist jenseits der Dichtung...»

Das Ziel lag jenseits der Dunkelheit, lag jenseits der Gefilde des mütterlich behüteten Einst; mochte der Knabe auch von einem Ziele reden, er wußte nichts davon, er war zu jung dazu, er hatte geführt, aber nicht um des Zieles willen: «Wie immer es sei, du kamst zu mir, weil ich ein Dichter bin... oder nicht?» «Du bist Vergil.»

«Das weiß ich... außerdem hast du es den Leuten da drunten auf dem Hafenplatz deutlich genug in die Ohren geschrieen.»

«Es hat aber nicht viel genützt.» Die Lustigkeit in dem Jungengesicht wurde zu einem Zwinkern, zu einem komischen Nasenrümpfen, so daß sich das Sommersprossenband an der Wurzel zu vielen kleinen Falten zusammenzog, und die entblößten weißregelmäßigen, sehr starken Zähne schimmerten im Kerzenlicht; es war die nämliche Lustigkeit, mit der er drunten auf dem Platze versucht hatte, die Bahn für den Dichter Vergil freizubekommen, und es war die nämliche Lustigkeit, die von einem sehr fernen Einst herstammte.

Irgend etwas zwang zum Sprechen, zwang dazu, selbst auf die Gefahr hin, daß es ein Knabe nicht verstehen würde: «Der Name ist wie ein Kleid, das uns nicht gehört; nackt sind wir unter unserem Namen, nackter noch als das Kind, das der Vater vom Boden aufgehoben hat, um ihm den Namen zu geben. Und je mehr wir den Namen mit Sein erfüllen, desto fremder wird er uns, desto unabhängiger wird er von uns, desto verlassener werden wir selber. Erborgt ist der Name, den wir tragen, erborgt das Brot, das wir essen, erborgt sind wir selber, nackt hineingehalten ins Fremde, und nur derjenige, der allen erborgten Flitter von sich abgetan hat, der wird des Zieles ansichtig, der wird zum Ziele gerufen, auf daß er sich mit seinem Namen endgültig vereinige.» «Du bist Vergil.»

«Ich war es einstens; vielleicht werde ich es wieder sein.»

«Noch nicht, und doch schon», kam es wie Bestätigung von des Knaben Lippen.

Es war Trost, freilich bloß der Trost, den ein Kind zu spenden vermag, und das war kein ausreichender Trost.

«Dies ist ein Haus der erborgten Namen... warum hast du mich hergeführt? ein Haus der Gäste ist es.»

Aufs neue zeigte sich das Lächeln des Einverständnisses, kindlich und fast spitzbübisch, doch eingebettet in eine sehr große, ja, zeitlose Vertrautheit: «Ich bin zu dir gekommen.»

Und sonderbar, nun genügte die Antwort, gleichsam als wäre sie ein ausreichender Trost, und sie genügte sogar auch schon für die nächste Frage, welche sich, womöglich noch sonderbarer, daraufhin einstellte, sonderbar in ihrer Unabweisbarkeit: «Kommst du aus Andes? fuhrst du nach Andes?» Er wußte nicht, ob er die Frage tatsächlich laut ausgesprochen hatte, allein er wußte, daß er keine Antwort hören wollte, weder eine bejahende, noch eine verneinende, denn weder durfte der Knabe aus Andes stammen, noch durfte er es nicht, allzu erschreckend wäre das erste, allzu sinnlos das zweite gewesen. Nein, keine Antwort sollte erfolgen, und daß sie nicht erfolgte, war richtig; aber überaus mächtig war der Wunsch, den Knaben hier behalten zu dürfen, mächtig war der Wunsch, atmen zu dürfen, atmend zur Ruhe hin und zur Ahnung, oh, der Wunsch war selber Ahnung. Schräg brannten die Kerzen in dem weichen Lufthauch, der wie eine kühle, zarte und mächtige Sehnsucht einherflutete, dahinflutete, aus der Nacht kommend, in die Nacht sich ergießend; die Silberampel neben dem Ruhelager pendelte leise an ihrer langen Kette, und draußen vor dem Fenster verzitterte und verebbte über die Dächer hin der Dunst der Stadt, löste sich purpurn auf, purpurviolett im Dunkelblauen und Schwarzen und Unbegreiflichen und Wogenden.

Atmen, ruhen, warten, schweigen. Aus der Nacht kommend, in die Nacht sich ergießend, strömte das Schweigen, und lange währte es, bis er es unterbrach: «Komm, setze dich zu mir», beschied er den Jungen an seine Seite, und auch als sich dieser zu ihm hingekauert hatte, hielt das Schweigen an, blieben sie vom Schweigen umfangen, hingegeben der schweigenden Nacht. Von ferneher tobte es, tobte der Lärm der Schauwütigen, tobte das Getöse des Festes, brodelte das Kreatürliche, orkusartig, dumpf, unabwendbar, verlockend, unzüchtig und unwiderstehlich, wild und satt zugleich, blind und starrend, die stampfende Herde, die im schattenlosen Truglicht der Fackeln und Brände sich an den Unheilsabgrund des Nichts drängt, fast unrettbar, fast unerrettbar, würde nicht selbst auch noch hierin - und je länger man hinlauschte, desto deutlicher wurde es vernehmbar - ja würde nicht auch noch hierin der Gesang des Schweigens enthalten gewesen sein, enthalten seit jeher, enthalten für immer, des Schweigens Glockengeläute, anschwellend zum erzenen Geläute der Nacht und zum Geläut aller Menschenherden, leise singend die Herdennacht, aufseufzend die Herde in ihrem großen Schlaf: tief unter dem Humus des Seins, schattenrauschend und kindheitsverborgen, schicksalsentlöst, zufallsentlöst und unzuchtsfrei wohnet die Nacht; aus ihr sprießt das Kreatürliche, durchflutet vom Rauschen der Nachtsäfte, geschwängert vom Schlafe, ewig befruchtet vom Quell aller Innigkeit, es sprießen aus ihr in unsäglicher Verwebung und einander einverleibt Pflanze, Tier und Mensch, einander verschattet, denn der Fluch der Rückkehr ist im Segen des Schlafes geborgen, und es ist die holde Decke des Seins, ein Traum-Nichts über das Nichts gebreitet.

Oh, das Irdische! Ätherwelt und Nachtwelt im unablässigen Ein- und Ausatmen, schwebend zwischen der doppelten Verlockung der Schattengröße und der Schattenlosigkeit, unabänderlich die Gezeiten des Ablaufs eingespannt zwischen den beiden Polen der Zeitaufhebung, der tierischen und der göttlichen Zeitlosigkeit - oh, in allen Adern des Irdischen, in allem was der Erde entsprossen ist, strömt die Nacht aufwärts, unaufhörlich zu Wachheit und Bewußtheit verwandelt, Innen und Außen zugleich, das Gestaltlose zum dunkelhaltigen, schattenbergenden Gebilde formend, und zwischen dem Nichts und dem Sein, schwebend in solchem Schweben, wird die Welt zu Dunkelheit und Licht, wird sie erkennbar in ihrer Schatten- und Lichthaftigkeit. Immer tönt in der Seele, ob leiser, ob lauter, niemals jedoch verlierbar, das Glockengeläute der Nacht, das Glockengeläute der Herden, immer das Löwengebrüll des Tages, erschütternd im Lichte und in der Erkanntheit, der goldene Sturm, der das Kreatürliche verschlingt -, oh, Erkenntnis des Menschen, noch nicht Erkenntnis, nicht mehr Weisheit, aufsteigend aus dem Humus des Seins, aufsteigend aus dem Ur-Lebenden, aufsteigend aus der Mütter Weisheit, emporsteigend in die tödliche Klarheit der Über-Helle, des Über-Lebens, emporsteigend zur brennenden Vater-Erkenntnis, emporsteigend zur Kälte, oh, Erkenntnis des Menschen, unverwurzelte, ewig bewegte, die nicht unten und nicht oben ist, sondern stets an der Dämmerschwelle zwischen Nacht und Tag schwebt, ein Aufatmen und ein Atmen im Zwischenreich der Sternendämmerung, zwischen dem Leben der nächtlichen Herde und dem Tode der lichtumflossenen Vereinzelung, zwischen dem Schweigen und dem Worte, das wieder ins Schweigen zurückkehrt. Nichts Irdisches vermag wahrhaft den Schlaf zu verlassen, und nur wer niemals der Nacht vergißt, die in ihm wohnt, vermag den Ring zu schließen, vermag aus der Zeitlosigkeit des Anfanges zu der des Endes heimzukehren, vermag den Kreislauf stets aufs neue zu beginnen, er selber Gestirn im Unwandelbaren des Zeitenablaufes, aus der Dämmerung aufsteigend, in der Dämmerung verschwindend, Geburt und Wiedergeburt im Nächtlichen und aus dem Nächtlichen, empfangen vom Tage, dessen Helle in das Dunkel eingegangen ist, nachtbergender Tag: ja, so waren die Nächte gewesen, all die Nächte seines Lebens, all die Nächte, durch die er gewandert war, die Nächte, die er durchwacht hatte, voll Angst vor der Bewußtlosigkeit, die unter den Nächten droht, voll Angst vor der Schattenlosigkeit, die über ihnen ist, voll Angst, den Pan zu verlassen, voll einer Angst, die um die Gefahr der zwiefachen Zeitlosigkeit weiß, ja, so waren jene Nächte gewesen, gebannt an die Schwelle des doppelten Abschiedes, Nächte des unabänderlich gleichbleibenden Weltenschlafes, obwohl auf den Plätzen, auf den Gassen, in den Schenken, unweigerlich gleichbleibend in Städten und Aber-Städten von Anbeginn an, unhörbar hertönend aus allen Zeitenfernen und eben darum um so eindringlicher gewußt, die Menschen tobten, Schlaf auch dies, obwohl in Festräumen und Aber-Festräumen sich die Machthaber der Welt feiern ließen, umbrandet von Fackeln und Musik, angelächelt von Gesichtern und Aber-Gesichtern, umworben von Leibern und Aber-Leibern und selber lächelnd, selber werbend, Schlaf auch dies, obwohl die Wachtfeuer brannten, nicht nur vor den Burgen, sondern ebenso draußen, wo Krieg war, an den Grenzen, an den nachtschwarzen Flüssen und an den nachtrauschenden Waldrändern und unter dem blinkenden Angriffsgegröle der aus dem Dunkel hervorbrechenden Barbaren, Schlaf auch dies, Schlaf und Aber-Schlaf wie jener der nackten Greise, die in stinkenden Höhlen sich ihren letzten Rest Wachheit vom Leibe schliefen, wie jener der Säuglinge, die aus dem Elend ihrer Geburt heraus in die dumpfe Wachheit eines künftigen Lebens traumlos hineinträumten, wie jener der angeketteten Knechtsrotte in den Schiffsbäuchen, die wie betäubtes Gewürm auf den Bänken, auf den Planken, auf den Taubündeln hingestreckt waren, Schlaf und Aber-Schlaf, Herde und Aber-Herde, heraufgehoben aus der Ununterscheidbarkeit ihres Urbodens gleich Nachthügelketten, die in der Ebene ruhen, eingesenkt ins unabänderlich Mütterliche, in die ständige Wiederkehr, die noch nicht Zeitlosigkeit ist und sie trotzdem in jeder irdischen Nacht neu gebiert; ja, so waren diese Nächte gewesen, so waren sie es noch immer, so war es auch diese, vielleicht für immerdar, Nacht an der Schwellenkippe von Zeitlosigkeit und Zeit, von Abschied und Wiederkunft, von Herdengemeinschaft und einsamster Einsamkeit, von Angst und von Rettung, und er, an die Schwelle gebannt, Nacht für Nacht an der Schwelle wartend, trübsichtig im Zwielicht des Nachtrandes, in des Weltenrandes Dämmerung, er, wissend um das Geschehen des Schlafes, er war heraufgehoben worden ins Unabänderliche, und selber Gestalt werdend, wurde er zurückgestürzt und aufwärtsgestürzt in die Sphäre der Verse, in das Zwischenreich des irdischen Erkennens, in das Zwischenreich der Mütter, der Weisheit und der Dichtung, in den Traum, der jenseits des Traumes ist und an die Wiedergeburt rührt, Ziel unserer Flucht, die Dichtung.

Flucht, oh, Flucht! oh Nacht, die Stunde der Dichtung. Denn Dichtung ist schauendes Warten im Zwielicht, Dichtung ist dämmerahnender Abgrund, ist Warten an der Schwelle, ist Gemeinschaft und Einsamkeit zugleich, ist Vermischung und Angst vor der Vermischung, unzuchtsfrei in der Vermischung, so unzuchtsfrei wie der Traum der schlafenden Herde und doch Angst vor solcher Unzucht: oh, Dichtung ist Warten, noch nicht Aufbruch, aber immerwährender Abschied. Er spürte an seinem Knie, unmerklich fast, die Schulter des hingekauerten Knaben, er sah nicht das Antlitz, spürte nur, wie es im eigenen Schatten versunken war, indes, er sah das wirrdunkle Haar in dem das Kerzenlicht spielte, und er gedachte jener fürchterlichen, glückhaftglücklosen Nacht, in der er, vom Schicksal getrieben, ein Liebender und Gehetzter auch hier, zu der Plotia Hieria gekommen war und ihr, der Hingekauerten, der winterlich Harrenden, winterlich Unerschlossenen nur eben Verse vorgelesen hatte -, es war die Ekloge von der Zauberin gewesen, jene auf Wunsch und Auftrag des Asinius Pollio verfertigte Ekloge, die ihm niemals so gut geglückt wäre, wenn nicht der Gedanke an die Plotia, wenn nicht die Sehnsucht und die Lustbangigkeit nach dem Weib dabei Pate gestanden hätten, und die ihm doch nur so gut geglückt war, weil er von allem Anfang an gewußt hatte, daß es ihm niemals vergönnt sein würde, die Schwelle zu verlassen und in die vollkommene Nacht der Gemeinschaft einzugehen; ach, weil der Wille zur Flucht ihm seit jeher auferlegt war, hatte er die Ekloge vorlesen müssen, und Furcht wie Hoffnung hatten sich erfüllt, es war zum Abschied geworden. Und ebenderselbe Abschied war es gewesen, der dann nochmals und später und größer von dem Äneas erlebt werden sollte, da er, bemüßigt vom rätselhaft unergründlichen Schicksalsablauf der Dichtung, mit flüchtenden Schiffen ins Unwiderrufliche ziehend, die Dido verlassen hatte, für immer verzichtend bei ihr zu liegen, mit ihr zu jagen, für immer geschieden von ihr, die ihm süßer Schatten der Wirklichkeit gewesen, der süße Schatten der Lust, für ewig geschieden von der Nachthöhle der Liebe unter den Gewittern. Ja, Äneas und er, er und Äneas, sie waren geflohen in einem wirklichen Aufbruch, nicht nur im verharrenden Abschiednehmen der Dichtung, sie waren aus deren Zwischenreich geflohen, als taugte es nicht für den Lebenden, obwohl es auch jenes der Liebe ist -, wohin ging diese Flucht? aus welcher Tiefe stammte diese Furcht vor Junos mütterlichem Geheiß? Ach, die Liebe ist bereits Hinabsinken unter den Spiegel der Nacht, ist Hinabsinken zu dem nächtlichen Urgrund, an dem der Traum zur Zeitlosigkeit wird, die Schwelle seiner selbst unterschreitend, zum Urgrund des Ungestalteten, des Unerschaubaren, das stets lauernd bereit ist, gewittergleich zerstörerisch hervorzubrechen: nur die Tage verändern sich, nur durch die Tage rinnt die Zeit, und am taghell Bewegten ist es die Zeit, die vom Auge geschaut wird; unbeweglich groß hingegen ist das Auge der Nacht, in dessen Tiefe die Liebe ruht, das Auge, das leer und brennend und starr im Sternenscheine, unabänderlich und unablässig, Nacht für Nacht, über alle Zeiten hinweg die irdische Zeitlosigkeit in sich erneuert -, weltenschöpfend und weltenverschlingend aus seiner tiefsten Augentiefe heraus, nichts mehr schauend, nichts als die blendende Blitztiefe des Nichts, nimmt es alle Augen in sich auf, die Augen der Liebenden, die Augen der Erwachenden, die Augen der Sterbenden, brechend in Liebe, brechend im Tode, das Auge des Menschen, brechend, weil es in die Zeitlosigkeit schaut.

Flucht, oh Flucht! Gestaltwerdung des Tages und Gestaltenruhe der Nacht, beides hingewendet zum ruhenden Geschehen der Zeitlosigkeit! Mählich verkrusteten die Kandelaberkerzen, um die mit bösmonotonem, ungestalthartem Summen pausenlos die Mücken schwärmten, pausenlos rieselte das Wasser des Wandbrunnens, und das Rieseln war wie ein Teil seines unsäglich zeitlosen, unbewegten, ozeanischen Dahinflutens; es spielten unbewegt die Amoretten in dem Wandfries, erstarrt zu einer Überfriedlichkeit, zu einer Überruhe, die kaum mehr Gestalt war, vielmehr teilhatte an der weiträumigweiträumig starrbrausenden, jenseitigen Nachtstille, an ihrer äonenhaften Unabänderlichkeit, die - schattengebärend und schattendurchtränkt - als atemumwandete Höhle der Traumgezeiten ringsum sich aufbaute, gestaltloses Schweigen, überschwebt von der Lautlosigkeit der Donnervögel unter den unbewölkten Sternen. Denn was immer in der Nacht ruht, den Frieden trinkend, einander trinkend, von Schatten durchpulst, einander verschattend, Seele an Seele gepreßt, Gatte und Gattin vereint, das Mädchen in den Armen des Jünglings geborgen, der Knabe im Arme des Liebhabers, was immer in der Nacht sich begibt, ist teilhabenddunkler Widerschein ihrer noch größeren Dunkelheit, ist Abbild ihrer dunkelzuckenden Blitze, ist Sturz in den Gewitterabgrund, aufgerissen die Decke des Traumes, und wenn wir auch nach der Mutter schreien, auf daß sie uns vor dem Nachtgewitter beschütze, sie ist so weit und so erinnerungsverloren, daß nur mehr hie und da ein Schauer der Kindheit zu uns geweht wird, kein Trost und kein Schutz mehr, höchstens der vertrautfremde Hauch längstentschwundener Heimat, der Ruhehauch, der dem Gewitter vorangeht: ja, so war es, und mochte die Nachtbrise noch so lau und so milde, mochte sie noch so kühl durch das Fenster hereinstreichen, mochte sie auch alles Irdische in ihren Gezeiten umfassen, Olivenhain und Weizenmahd und Weinberg und Fischerstrand umhauchend wie ein einigend einziger, wogender Nachtatem der Länder und Meere, ihre Ernten in sanfter Windhand tragend und vermengend, und mochte die sanftwehende Hand noch so linde herabsinken, hinstreichend über die Straßen und Plätze, die Gesichter kühlend, den Qualm zerteilend, die Brunst beschwichtigend, ja mag dieser wehende Atem, von dem die Gestalt der Nacht bis zu ihrer äußersten Oberfläche erfüllt wird, sogar noch über sie hinausgewachsen sein, verwandelt zu dem bebenden Höhlengebirge, das unerfaßlich, kaum noch ein Außen, zutiefst im eigensten Innern ruht, im Herzen und tiefer als das Herz, in der Seele und tiefer als die Seele, in unserem tiefsten Ich, das selber zur Nacht geworden ist, mochte dies alles auch sein und werden, es nützte nichts; es nützte nichts, es war zu spät an der Zeit, es nützte nichts mehr; unheilschwanger bleibt der Schlaf der Herden, unbeschwichtigt bleibt das irdische Toben, unverlöschbar das Feuer, ausgeliefert bleibt die Liebe dem schmetternden Blitze des Nichts, und über der Höhle der Nacht steht zeitlos das Gewitter.

Flucht, oh, Flucht! die Mutter bleibt unerrufbar.