Siebenfarbig und göttermild wölbt sich ihm der Regenbogen der Kindheit über das Sein, täglich neu gesehen, täglich neu geschaffen, die gemeinsame Schöpfung des Menschen und des Gottes, die Schöpfung aus der Stärke des todeserkennenden Wortes: war dies nicht die Hoffnung gewesen, um derentwillen er die Qual eines gehetzten Lebens, bar jedes friedlichen Glückes, hatte ertragen müssen? er blickte zurück auf dieses Leben des Verzichtes und einer noch heute fortgesetzten Entsagung, auf dieses Leben, das ohne Widerstand gegen das Sterben, wohl aber voller Widerstand gegen Gemeinschaft und Liebe gewesen war, er blickte zurück auf dieses im Dämmerlicht der Flüsse, im Dämmerlicht der Dichtung hinter ihm liegende Abschiedsleben, und deutlicher denn je wußte er heute, daß er all dies um jener Hoffnung willen auf sich genommen hatte; vielleicht war er zu verhöhnen und zu schmähen, weil solch großes Lebensaufgebot bisher zu keinerlei Hoffnungserfüllung geführt hatte, weil die Aufgabe, die er hatte lösen wollen, für seine schwachen Kräfte eine übergroße gewesen war, und vielleicht, weil die Mittel der Dichtkunst sich hiefür überhaupt nicht eigneten, allein, er wußte nun auch, daß es darauf nicht ankommt, mehr noch, daß die Berechtigung oder Nichtberechtigung einer Aufgabe nichts mit ihrer irdischen Lösbarkeit zu schaffen hat, daß es gleichgültig war, ob seine eigenen Kräfte ausreichten oder nicht, ob irgendein anderer Mann mit besseren Kräften geboren würde, oder ob ein besserer Lösungsbereich als der, den die Dichtung darstellt, irgendeinmal sich finden lassen könnte, all dies war belanglos, denn es war nicht seine eigene Wahl gewesen: sicherlich, Tag um Tag, unzählige Male an jedem Tag hatte er nach freier Wahl entschieden und gehandelt, oder hatte geglaubt, daß es freie Entscheidungen gewesen waren, doch die große Linie seines Lebens war nicht eigene Wahl nach freiem Willen, sie war ein Müssen gewesen, ein Müssen, ein geordnet in das Heil und Unheil des Seins, ein schicksalsbefohlenes, trotzdem befehlsüberhobenes Müssen, befehlend, daß er seine eigene Gestalt in der des Todes suche, um hierdurch der Seele Freiheit zu gewinnen; denn die Freiheit ist ein Müssen der Seele, deren Heil und Unheil stets auf dem Spiele steht, und er hatte sich dem Befehl gefügt, gehorsam seiner Schicksalsaufgabe.

Er rückte ein wenig in den Kissen hinauf, um die schmerzende Brust zu entlasten, sehr vorsichtig, damit die hingebreiteten Landschaften seines Ichs, die ihm Klarheit zu verbürgen schienen, nicht in Unordnung gerieten und nicht etwa sich ineinanderschüttelten, wie dies beim aufgerichteten Menschen der Fall ist, und dann tastete er neben sich nach dem Manuskriptkoffer hin, über dessen rauhlederne Deckelfläche er beinahe zärtlich die Hand hinfingern ließ: heiß und erregend war das Gefühl der Arbeit, das zwingende Entdeckergefühl, das große Wanderergefühl des Schaffens in ihm erwacht, und wäre nicht zugleich auch die große Wanderangst aufgekeimt, die gräßliche Angst des Wegverlorenen, der im Nachtdickicht umherirrt, diese seltsam tiefste Angst, von der alles Schaffen begleitet wird, es hätte das heißglückhaft Aufwallende in seiner Brust sogar die Todesbereitschaft der mahnenden Schmerzen übertönt, hätte vielleicht sogar die Atemnot gelindert, hätte Fieberhitze und Fieberkälte zum Vergessen gebracht, und nichts hätte ihn mehr hindern dürfen sich sofort an die Arbeit zu setzen, leistungsbereit aufs neue zu beginnen, eingedenk jener Aufgabe, die er bis zum letzten Atemzuge zu erfüllen hatte und die ihm erst mit dem letzten Atemzuge wahrhafte Erfüllung bringen sollte.

Nein, nichts hätte ihn von der Arbeit abhalten können, nichts hätte ihn davon abhalten dürfen, und alles hielt ihn ab, tat es so sehr, daß die Fertigstellung der Äneis nun schon seit Monaten völlig stockte und nichts übriggeblieben war als Flucht und wieder Flucht. Und nicht die Krankheit, nicht die Schmerzen, die längst gewohnten, längst gemeisterten, waren daran schuld, wohl aber die unentfliehbare, unerklärbare Beunruhigung, dieses beängstigte Gefühl ausweglosen Verirrtseins, dieses deutlich wissende Ahnen um ein ständig drohendes, ständig vorhandenes übermächtiges Unheil, dessen Wesen unerkennbar war, unentscheidbar seine Herkunft, unentscheidbar ob es im Innen oder Außen lauerte. Sehr vorsichtig atmend, lauschte er regungslos ins Dunkel. Die Kerzen auf dem Kandelaber erlosehen eine nach der anderen, bloß der Öllampe kleingeduldiges Licht neben dem Lager harrte aus, manchmal im Lufthauch an der leise klingenden Silberkette sanft hin und her baumelnd, widergespiegelt in einem schmetterlingsweichen, spinnwebigen Schattenpendeln an der Wand, und während draußen mählich die Straßenwildheit erstarb, und das wirre, ununterscheidbare Getöse sich zu allerlei Gewieher, Gejaunze, Gequake auf löste, das Geschwirr des Festes sich herausschied, mit hellerem und tieferem Gesumm in dem kaleidoskopisch gewordenen Lärmbild versprenkelt, wurde grundbaßähnlich der Gleichschritt abziehender Truppen vernehmbar, anzeigend, daß ein Teil der Wache in die Quartiere einrückte; dann wurde es still, freilich in einer Stille, die alsbald, seltsam schwirrend, ja sie selber das Schwirren, sich zu beleben begann, da plötzlich von weither, von überallher - kam es von den Feldern vor der Stadt, von denen in Andes? - das Grillengezirpe zu hören war, der Myriadenton der Myriadengeschöpflichkeit, endlos in der Stille, die über das Endlose sich hinerdehnte. Still und mählich verblaßte nun auch der rötliche Widerschein des lichtglänzenden Straßenfestes, schwarz wurde die Zimmerdecke, schwarz bis auf den hellen Fleck oberhalb der Lampe, der nun wie ein sanft hin und her gleitendes Pendelmalen war, und die Sterne vor dem Fenster standen im Schwarzen. War dies das Beunruhigende, nach dessen Ursprung er suchte? Warum war es beunruhigend, da doch das Abflauen des niedrigverzweifelten Gegröles weit eher eine allgemeine Befriedigung hätte bedeuten können? Nein, das Unheil war geblieben, und nun erkannte er es, mußte er es erkennen: es war das Unheil der eingekerkerten Menschenseele, für die jede Befreiung immer nur wieder neue Einkerkerung ist. Er starrte zum Fenster hin, und die Nacht kreiste in ihrem ungeheueren Raum, die Kuppel von Atlas gedreht, ruhend auf der Schulter des Riesen und besät mit funkelnden Gestirnen, die ungeheuere Nachthöhle, die nichts entläßt; er lauschte den Geräuschen der Nacht, und sie wurden ihm, dem Fiebernden, den es hingestreckt hatte, daß er unter seiner Decke friere und glühe, sie wurden ihm in seiner Überwachheit mit verschärfter Gleichzeitigkeit zur Wahrnehmung angetragen, die Bilder, die Gerüche, die Geräusche des Jetzt zusammen mit denen eines jeden gelebten und erlebbaren Einst, in zweifachem Erinnern des Rückwärts und Vorwärts, so sehr geschwellt von der unabweislichen, unerklärlichen Unheimlichkeit, so sehr unhabhaft entfliehend, so sehr geheimnisverborgen trotz all ihrer Nacktheit, daß er, aufgepeitscht und erlahmt zugleich, ins Chaotische zurückgestürzt wurde, in das Dickicht aller Einzelstimmen -, das Gestaltlose, dem er zu entrinnen geglaubt hatte, war neuerdings über ihn gekommen, nicht als das Ununterscheidbare des Herdenanfangs, hingegen sehr unmittelbar, ja geradezu handgreiflich, als das Chaos der Vereinzelung und einer Auflösung, die durch kein Belauschen, durch kein Festhalten je wieder zur Einheit zu fügen war; das dämonische Chaos aller Einzelstimmen, aller Einzelerkenntnisse, aller Einzeldinge, gleichgültig ob sie der Gegenwart oder der Vergangenheit oder der Zukunft angehören, dieses Chaos drang jetzt auf ihn ein, diesem Chaos war er aus geliefert, ja, dies war es gewesen, seitdem der brausend ununterscheidbare Lärm der Straße sich zu einem Dickicht von Einzelstimmen zu verwandeln angehoben hatte. Dies war es. Oh, jeder ist vom Stimmengestrüpp umgeben, jeder wandert sein Leben lang darin umher, wandert und wandert und ist dennoch in der Undurchdringlichkeit des Stimmenwaldes an die Stelle gebannt, ist verfangen im Nachtsprießenden, verfangen in Waldeswurzeln, die jenseits jeglicher Zeit und jeglichen Raumes ansetzen, oh, jeder istvon den unzähmbaren Stimmen und deren Fangarmen bedroht, von Stimmengezweige, von den Aststimmen, die einander umschlingend ihn umschlingen, die auseinander herauswachsen, gerade aufschießend und wieder ineinander verkrümmt, dämonisch in ihrer Selbständigkeit, dämonisch in ihrer Vereinzelung, Sekundenstimmen, Jahrstimmen, Äonenstimmen, die sich zum Weltengeflecht, zum Zeitengeflecht verschränken, unverständlich und undurchdringlich in ihrer brüllenden Stummheit, feucht von Schmerzensgestöhn und harsch von der Freuden Wildheit einer ganzen Welt; oh, keiner entgeht dem Urgetöse, keinem ist es zu ersparen, da jeder, ob wissend oder nicht, selber nichts anderes ist als eine der Stimmen, selber zu ihnen gehört und zu ihrer unauflösbar-unzerteilbar undurchdringlichen Drohung -, wie konnte man da noch Hoffnung hegen! unrettbar ist der Verirrte im Dickicht eingekerkert, keine Bresche, keine Lichtung ist zu legen, und wollte er seine Hoffnung noch darüber hinausspannen, darüber hinausschicken, dorthin ins unausdehnbar Unendliche, wo die Einheit, die Ordnung, die Allerkenntnis der Stimmengesamtheit erahnt werden darf, der ahnungsvoll große Akkord ihrer selbst, stimmenschließend, stimmenlösend, der aus letzten Räumen wiedererklingende Echoakkord der Welteneinheit, der Weltenordnung, der Weltenallerkenntnis, die letzte Echolösung der Weltenaufgabe, es wäre solche Hoffnung des Sterblichen vermessen und den Göttern ein Greuel, sie zerbräche an den Wänden der Unhörbarkeit, verhallend im Stimmendickicht, im Erkenntnisdickicht, im Zeitendickicht, verhallend zu einem sterbenden Seufzen; denn unerreichbar ist der Stimmenquell des Zeitenanfanges, er liegt unter allen Wurzeltiefen, er liegt unter allen Stimmen, er liegt unter aller Stummheit, unerdringlich der Wurzelbrunnen der Wälder, in dem der Sternenplan der Einheit der Ordnungen und der Sprache aufbewahrt wird, unerschaubar das Sinnbild aller Sinnbilder, denn unendlich und mehr als unendlich ist die Vielfalt der Richtungen im überunendlichen Raume, unendlich ist die Anzahl der Vereinzelungen, unendlich ist die Anzahl der Wege und ihrer Verschlingungen, und sogar die Vielräumigkeiten der Sprache und Erinnerung, sogar deren Richtungsreichtum und deren eigene Abgrundsunendlichkeit sind nur ein sehr schwacher, ein sehr spärlicher, ein in den irdischgeringen Bildern gewobener Widerschein dessen, das von keinem Denken zu erfassen ist, dessen, das in seinem Atem jeglichen Sphärenraum aufbewahrt und dabei von jedem noch so kleinen Sphärenpunkt aufbewahrt wird, sich selbst ein- und ausatmend, sich selbst ein- und ausstrahlend, Widerschein eines vor Sinnbildhaftigkeit schier unaussprechbaren, schier unerinnerbaren, schier unverkündbaren Erkenntnisheils, das mit seinen Strahlen jeglichen Zeitenablauf überholt und jeden Sekundenbruchteil zur Zeitlosigkeit verwandelt: Kreuzungspunkt aller Wege, auf keinem erreichbar, das unverrückbar ewige, das unverrückbar entrückte Wegziel! schon der erste, der allererste Schritt, der in irgendeiner Richtung des Wegdickichts erfolgte, würde zu seiner Ausführung, und sei sie noch so eilig, ein ganzes Leben und mehr als ein ganzes Leben erfordern, es wäre ein unendliches Leben nötig, um eine einzige dürftige Erinnerungssekunde festzuhalten, ein unendliches Leben, um einen einzigen Sekundenblick in die Tiefe des Sprachabgrundes zu werfen! Lauschend in diese Sprachentiefe, hatte er gehofft das Sterben belauschen zu dürfen, hatte er gehofft ein Wissen, wenn auch nur den ahnenden Schimmer eines Vorwissens um jene Grenzerkenntnis zu erhaschen, die bereits Erkenntnis außerhalb der irdischen Erkenntnis wäre, doch selbst die Hoffnung war bereits Vermessenheit angesichts des Unerhaschbaren, das aus den Echowänden des Abgrundes heraufdrang, ein Blinken, das kaum mehr Blinken war, kaum mehr die Erinnerung an ein Blinken, kaum mehr das Echo einer Erinnerung, ein hauchflüchtiger Hauch, so unsichtbar, daß nicht einmal Musik aus gereicht hätte, solche Unsichtbarkeit festzuhalten, geschweige denn sie als Ahnung des unfaßbar Unendlichen zum Ausdruck zu bringen; nein, nichts Irdisches vermag das Dickicht zu zerreißen, kein irdisches Mittel reicht aus die ewige Aufgabe zu lösen, die Ordnung aufzudecken und zu verkünden, vorstoßend zur Erkenntnis jenseits der Erkenntnis, nein, überirdischen Mächten und überirdischen Mitteln ist dies Vorbehalten, einer Ausdruckskraft, die jeden irdischen Ausdruck weit hinter sich läßt, einer Sprache, die außerhalb des Stimmengestrüpps und aller irdischen Sprachlichkeit stehen müßte, einer Sprache, die mehr wäre als Musik, einer Sprache, die es dem Auge gestattete, herzschlagend und herzschlagrasch, die Erkenntniseinheit des Seins zu erfassen, wahrlich einer neuen, einer noch nicht gefundenen, überirdischen Sprache bedürfte es, um diese Leistung zu vollbringen, und Vermessenheit war die Bemühung, mit armseligen Versen sich an solche Sprache heranzuwagen, fruchtlose Bemühung und lästerliche Vermessenheit! ach, es war ihm vergönnt gewesen die ewige Aufgabe zu sehen, des Seelenheiles Aufgabe, es war ihm vergönnt gewesen den Spaten anzusetzen, und er hatte nicht gemerkt, daß er sein ganzes Leben hieran verschwendet hatte, das Leben verschwendet, die Jahre vergeudet, die Zeit vertan, nicht etwa, weil er gescheitert war und sich unfähig erwiesen hatte, unfähig nur ein einziges Würzelchen freizulegen, sondern weil schon der bloße Entschluß den Spaten anzusetzen, ein unendliches Leben erschöpfen würde, mehr noch, weil der Tod jedwede Seele überholt und selber durch nichts einholbar ist, auch nicht mit Hilfe der belauschten Sprache und einer vorbelauschten Erinnerung, übermächtig der Tod, übermächtig das Dickicht, das durch nichts zu lichten ist und den Verirrten unbarmherzig verkerkert, hilflos der Verirrte, er selber nur eine hilflose Stimme im Gestrüpp der Vereinzelungen. Wie konnte man da noch Hoffnung hegen?! Entpuppte sich da das menschliche Geschehen, wie immer und wo immer es statthatte, nicht unweigerlich als Ausfluß der kreatürlichen Angst, als ein besessenes Angstgeschehen, aus dessen Dämmerkerker es kein Entrinnen und kein Ausbrechen mehr gibt, da es die Angst der im Dickicht verirrten Kreatur ist? Tiefer denn je war er dieser Angst inne geworden, besser denn je verstand er der verirrten Seele niemals erschweigenden Wunsch nach todesaufhebender Zeitüberwindung, besser denn je verstand er die unverlöschliche Hoffnung der kreatürlichen Massen, verstand er, was die dort drunten, Stimmen und Aber-Stimmen auch sie, mit ihrem wildverzweifelten Gegröle begehrten, verstand er sie, wenn sie an ihrer Inbrunst, an ihrer Pöbelinbrunst unverbrüchlich und unbelehrbar hafteten, aus sich herausschreiend, in sich hineinschreiend, es möge und es müsse in dem Gestrüpp eine ausgezeichnete, eine stärkste, eine außergewöhnliche Stimme geben, eine Führerstimme, der sie sich bloß anzuschließen brauchten, um in deren Abglanz, im Abglanz des Jubels, des Rausches, der Nacht, der cäsarischen Gottähnlichkeit sich mit einem letztatmig wilden, stierhaft machtbrüllenden Anstürmen doch noch einen irdischen Weg aus der Verstrickung ihres Daseins bahnen zu können, und dies erkennend sah er, verstand er, erkannte er besser denn je, daß sein eigenes Trachten zwar in der Form und in der Überheblichkeit, nicht jedoch durch Sinn und Inhalt, sich von diesem rohen, aber ehrlicheren Vergewaltigungswillen der rasend gewordenen Herde unterschied, daß er die schlichte, kreatürliche Angst, die ihn mit genau derselben Stärke umfangen hielt, nur getarnt hatte, umgelogen in eine Sehnsucht nach allerkennender Ordnungseinheit, umgelogen in ein vergebliches und darum doppelt scheinheiliges Lauschen und Vorlauschen, daß er die Hoffnung auf die wegbereitende, außergewöhnliche Führerstimme, diese irdischeste Pöbelhoffnung, die auch die seine war, einfach an den Rand des Irdischen geschoben hatte, sich vortäuschend, daß sie ihm einstens von dorther ertönen und dann überirdisch sein werde, Phantom seiner Überheblichkeit, dem Irdischen verhaftet und der Vergeblichkeit alles Irdischen verfallen; oh, er erkannte besser denn je die Vergeblichkeit der massentierischen Ausbruchsversuche und ihrer Furchtgejagtheit, deren Fluchtangriffe, aufbrüllend vor Hoffnung, abschweigend vor Enttäuschung, immer wieder in die starre Schattenlosigkeit des Nichts münden mußten, zeitenverirrt und der Zeit nicht entrinnend, und er erkannte, daß ihm das nämliche Los beschieden war, ebenso unausbleiblich, ebenso unentrinnbar, der Absturz in die Starrheit eines Nichts, das den Tod nicht auf hebt, sondern selber der Tod ist. Oh, sein Leben war verirrt und vertan, denn der Weg, den er gegangen war, der war von vorneherein Ausweglosigkeit gewesen, beladen mit dem Wissen um die falsche Richtung, beladen mit dem Wissen um die Verirrtheit, von vorneherein ein Irren und Herumtasten und Herumdämmern im Dickicht, ein Leben des falschen Verzichtes und des falschen Abschiedes, beladen mit der Furcht vor der unausbleiblichen Enttäuschung, die er ebendeshalb, nicht anders eben wie die Hoffnung, an den Rand des Lebens und des Irdischen geschoben hatte. War dieser Rand nun erreicht, da nichts geblieben war als die Enttäuschung? da nichts geblieben war als der kalte Schrecken, lähmend und atemberaubend, uneingestanden vielleicht, der Schrecken des Sterbens, sicher aber und vielleicht noch stärker der Schrecken der Enttäuschung? nichts war geblieben als die Erstarrung, die wie eine geheimnisvolle, von den Sternen bestimmte Strafe auf ihm lastete, eine Sünde bestrafend, die aus dem vorschicksalshaft Unwiederbringlichen herstammte, eine Sünde, die er nicht begangen hatte und die, ehe sie noch begangen werden konnte, Vermessenheit war, eine ewig unbegangene Sünde, ewig hinter ihm stehend, ewig der ewigen Erkenntnisaufgabe entgegenstehend, ewig ihm auferlegt, damit er seine Aufgabe, damit er die Erfüllung nicht sehe, unsichtbare Strafe in unsichtbarer Erstarrung, die Sünde und die Strafe der Nicht-Erweckung, zeiterstarrend, spracherstarrend, erinnerungserstarrend, das Dämmerlauschen, erstarrt im Nichts, im Ödfeld des Todes, und sehr verlassen in solcher Starrheit lag sein Leib da, siech und müdegealtert, hingebreitet und saturnisch hingedämmert über die Zonen seines Ichs, die durchsichtiger und durchsichtiger, verschwindender und verschwindender wurden, und die, verlassen sogar von den Dämonen, immer mehr und mehr verödeten, regungslos, als wären sie leere Fenster ohne Aussicht: nichts war daneben geblieben, nichts war daneben noch erinnerbar, da alles, was ihm einstmals Lebensgewinn bedeutet hatte, das einstmals Zeitlose, das einstmals Erinnerungspflichtige, ihm vorgealtert war, noch rascher gealtert als er selber, ihm entschwunden und versunken ins Kaum-Erschaffene, Kaum-Gelebte, und gealtert und verwelkt und abgestorben waren die einstmals so überaus hellen, durchklärt-hartschimmernden Bilder seiner Lebenslandschaft, abgestorben und abgefallen waren die Verse, die er darum gerankt hatte, dies alles war verweht wie braunes Laub, nicht mehr erinnert, nur noch gewußt, jahrzeitverweht, jahrzeiterschöpft, ein vergessenes Rascheln; vieles, oh, vieles war gewesen, Altvergangenes, Jüngstvergangenes, war gewesen in tausendfacher Vielfalt und millionenfacher Vereinzelung, doch nie war es bis zu ihm gelangt, nie hat es zur Gesamtheit werden dürfen, unabgeschlossen der Gedächtnisring, nie wird es bis zu ihm gelangen, es war bereits im Erleben abgelehnt zum Nichterlebten und blieb ungetan, gleichwie die Erfüllung seiner unendlichen Aufgabe im Ungetanen versandete, stockend bereits in ihrem ersten Schritte, gleichwie dieser Schritt, obwohl er nun schon ein ganzes Leben andauerte, noch immer, ja sogar von vorneherein ungetan war, verharrend in einer schaurig-unüberwindlichen Lähmung, für die es kein Vor und kein Zurück mehr gab, so daß auf den ersten ungetanen Schritt kein zweiter mehr wird folgen können, weil der Abstand zwischen den einzelnen Lebenssekunden zu einem unermeßlich unüberbrückbaren leeren Raum gewachsen ist und von hier aus überhaupt nichts mehr folgen kann, weder rasch noch langsam, weil sich überhaupt nichts mehr fortsetzen läßt, unfortsetzbar das Getane und Ungetane, unfortsetzbar das Gedachte und Ungedachte, das Ausgesprochene und Unausgesprochene, das Gedichtete und Ungedichtete, oh, - ihr Götter! auch die Äneis wird unabgeschlossen bleiben müssen, unfortsetzbar, unabgeschlossen wie dieses ganze Leben! Sollte dies tatsächlich so von den Sternen bestimmt sein? sollte dies tatsächlich das Los des Gedichtes werden?! das Schicksal der Äneis, sein eigenes Schicksal, unvollendet! War dies denkbar, oh, war dies denkbar?! Das schwere Tor des Schreckens war aufgesprungen, und dahinter tat sich mächtigallumfassend das Gewölbe des Entsetzens auf. Etwas Fürchterliches, das ihn von außen und von innen zugleich anpackte, etwas gräßlich Unbekanntes riß ihn hoch, jählings, aufschmetterndbösartig, überschmerzlichschmerzhaft, riß ihn hoch mit all der wüsten, lähmungsprengenden, erstickungsverzweifelten Kraft, die dem ersten Blitzdonner eines ausbrechenden Gewitters innewohnt, so fuhr es würgend in ihn hinein, todbringend, toddrohend, dennoch die Sekunden wieder aneinanderrückend und den Leerraum zwischen ihnen blitzartig mit jener Unfaßbarkeit anreichernd, welche Leben heißt, und fast war es ihm, als blitzte in dem Blitz nochmals die Hoffnung auf, fast war es ihm, während er, gefügt unter die eherne Klammer, atemrasch, blickrasch emporgerissen wurde, als geschähe es, damit das Versäumte und Verlorene und Nichtfertiggestellte nun doch noch, vielleicht sogar nur in dem Nu des wiederaufgelebten Sekundenatems nachgeholt werden könne; Hoffnung oder Nichthoffnung, er wußte es nicht, schmerzbetäubt, schreckensbetäubt, lähmungsbetäubt, wußte er es nicht, aber er wußte, daß jede Sekunde neuaufgelebten Lebens sehr vonnöten und wichtig war, er wußte, daß er nur für dieses Lebensaufflammen, mochte es kurz oder lang währen, emporgejagt wurde, weggejagt vom Lager der Starrheit, er wußte, daß er der Unatembarkeit des starrumwandeten geschlossenen Raumes zu entrinnen hatte, daß er den Blick nochmals hinaussenden mußte, abgewendet von sich, abgewendet von den Zonen des Ichs, abgewendet vom Ödfeld des Todes, daß er noch einmal, ein einziges Mal noch, vielleicht das letzte Mal, den All-Raum des Lebens würde umfassen müssen, oh, er mußte noch einmal, ein einziges Mal die Sterne sehen, und steif vor dem Bett emporgerichtet, gehalten von der Klammerfaust, die seinen ganzen Körper durchgriff und doch von außen umfing, bewegte er sich steifgliederig, marionettenhaft geleitet, drahtigeckig und unsicherstelzig zum Erkerfenster zurück, an dessen Wandung er erschöpft sich anlehnte, ein wenig abgeknickt wegen seiner Schwäche, trotzdem noch aufgerichtet, um mit zurückgezogenen Ellbogen und taktmäßig tiefem Atem seinem Lufthunger Genüge zu tun, damit das Sein sich wieder öffne, teilnehmend am Atemfluten der wiederersehnten Sphären.

Notwendigkeit des Atems, die Notwendigkeit des kreatürlichen Atems hatte ihn hergetrieben, aber zugleich war es eine unkörperliche Notwendigkeit gewesen, eine Sehnsucht nach dem Sichtbaren, nach der Weltsichtbarkeit, nach dem Atembaren in der Gewißheit des sichtbaren Alls. Erstickungsbetäubt stand er am Fenster, gehalten von der ihn umfangenden machtvollen Hand, und er wußte nicht, wie lange er schon so gestanden hatte, es hätten ebensogut Augenblicke wie Stunden gewesen sein können; nur unvollkommen und bruchstückweise floß das Zeitwissen wieder in ihn ein, nur bruchstückweise, auf weite Strecken von der Erstickungsangst, von der Erstickungspein überdeckt, baute sich die Welt wieder auf, wurde Wissen wieder zu Wissen, und bruchstückweise nur wurde er des Geschehenen gewärtig, Stück um Stück begreifend, daß es nicht bloß um die Äneis gegangen war, sondern um etwas, das er erst zu finden hatte.

Still lag nun die Welt vor ihm, nach all dem vorangegangenen und überstandenen Getöse fast überraschend still, und es war vermutlich schon spät in der Nacht, vermutlich ihre Mitte schon überschritten; die Sterne brannten groß in ihrem großen Wandelgang, tröstlich und stark und ruheflimmernd vor beruhigender Wiedererkanntheit, allerdings bei aller Wolkenlosigkeit beunruhigend eingetrübt, als wäre zwischen ihrem Raum und dem der untern Welt mittendurch eine gleichsam hartundurchdringliche, gerade noch für den Blick durchlässige, trübkristallene Wölbung einverspannt, und fast war es ihm, als ob die dämonische Zonenzerspaltung, der er mitsamt seinem Leib vordem im liegenden Lauschen, im lauschenden Liegen unterworfen gewesen war, sich hier auf die Außenwelt übertragen hätte, ja als ob sie hier so scharf, so unermeßlich geworden wäre, wie er es an sich selber niemals erfahren hatte. Der irdische Raum war derart scharf gegen den oberen abgewölbt und abgekapselt, daß nichts von dem ersehnten Wehen des Grenzenlosen spürbar wurde und nicht einmal der Lufthunger gestillt, nicht einmal diese Pein gelindert werden konnte, da der Dunst, in den die Stadt vorher eingehüllt gewesen, nun trotz der Abendbrise nicht verflüchtigt, kaum zerteilt, vielmehr zu einer Art fiebriger Durchsichtigkeit geworden war, gewissermaßen unter dem Druck der Weltabkapselung zu einer Art dunkler Gallerte gestockt, die unbewegt unbewegbar in der Luft schwebte, heißer als die Luft sich anfühlte und in ihrer Unatembarkeit beinahe ebenso bedrückend war wie die Stickigkeit im Zimmer drinnen. Unbarmherzig war das Unatembare vom Atembaren geschieden, unbarmherzig undurchdringlich war die kristallene Schale dunkel darüber gespannt, eine streng abdichtende Trennungswand für den Vorhof der Sphären, für den Vorhof des Atems, für den Weltenvorhof, in dem er stand, aufgerichtet von der ehernen Hand, gehalten von ihr, und während er einstens, eingeschmiegt ins irdisch Flächenhafte und hinerstreckt über die saturnischen Gefilde, selber die Grenze zwischen dem Oben und Unten gebildet hatte, unmittelbar den beiden Zonen angehörig und ihnen einverwoben, durchragte er sie jetzt als eine zum Wachsen bestimmte Einzelseele, welche in ihrer Vereinzelung und Vereinsamung weiß, daß sie, will sie die Tiefen des Oben und Unten erlauschen, sich selbst zu erlauschen hat: unmittelbare Teilhaberschaft an der Sphärengröße ist demjenigen verwehrt, der in der irdischen Zeit, im irdischmenschlichen Wachstum steht, wiederbeschenkt mit beidem; nur mit seinem Blick, nur mit seinem Wissen vermag er die unermeßliche Getrenntheit der Sphären zu durchdringen, nur mit seiner schauenden Frage vermag er sie verbindend zu umfassen, nur aus seiner fragenden Erkenntnis heraus und in ihr vermag er die Einheit, die Gleichzeitigkeits-Einheit der Welt und ihrer Sphären wiederherzustellen, nur im strömenden Kreislauf der Frage vollbringt er das Jetzt seiner Seele, ihre innerste irdische Notwendigkeit, ihre Erkenntnisaufgabe von Anbeginn an.

Zeit strömte oben. Zeit strömte unten, die verborgene Zeit der Nacht, wiedereingeströmt in seine Adern, wiedereingeströmt in die Bahnen der Gestirne, raumlos Sekunde an Sekunde gefügt, die wiedergeschenkte, wiedererwachte Zeit, überschicksalshaft, zufallsaufhebend, ablaufsentbunden das unabänderliche Gesetz der Zeit, das ewigwährende Jetzt, in das er hinausgehalten wurde:

Gesetz und Zeit,

auseinander geboren,

einander aufhebend und stets aufs neu sich gebärend,

einander spiegelnd und nur hierdurch erschaubar,

Ketten der Bilder und Gegenbilder,

die Zeit umschließend, das Urbild umschließend,

keines von beiden jemals zur Gänze erfassend und dennoch,

zeitloser und zeitloser werdend,

bis im letzten Echo ihres Zusammenklanges,

bis in einem letzten Sinnbild,

sich das des Todes mit dem alles Lebens vereinigt,

die Bildwirklichkeit der Seele,

ihre Wohnstatt, ihr zeitloses Jetzt und daher,

das in ihr verwirklichte Gesetz,

ihre Notwendigkeit.

Und in Notwendigkeit hatte sich alles vollzogen, notwendig war sogar der Weg einer Erkenntnis gewesen, welche das Innen und Außen ins unkenntlich Unermeßliche auflöste, zur völligen Fremdheit zertrennt und zerteilt. Doch ist in dieser unabweisbaren, unentrinnbaren Notwendigkeit nicht auch die Hoffnung auf den Wiederzusammenklang des Seins, auf die Nicht-Vergeblichkeit des Geschehens und Geschehenen beschlossen? in Notwendigkeit sind die Bilder aufgetaucht und in Notwendigkeit führen sie näher und näher an die Wirklichkeit heran! Oh, Nähe des Urbildes, Nähe der Ur-Wirklichkeit, in deren Vorhof er stand -, wird die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten nun zerreißen? wird die Nacht ihm nun ihr letztes Sinnbild enthüllen, ihm, dessen Auge zum Brechen bestimmt ist, wenn sie das ihre aufschlägt? er starrte zu den Sternen empor, deren schicksalsbestimmt schicksalsbestimmender, zweitausendjähriger Umlauf sich nun bald runden mußte, Bahn um Bahn dem Schicksal folgend und selber das Schicksal weitertragend vom Vater zum Sohne hin im Zeitengeschlecht, und es grüßte ihn das Himmelsjetzt, sich ausweitend aus dem Sichtbaren ins Unsichtbare zum vollen Kreis des wiedergeschenkten Wissens, es grüßte ihn drüben am südwestlichen Rande, vertraut und unheimlich, des Skorpionen Schicksalsbild, den gefährlich gekrümmten Leib vom milden Strom der Milchstraße umfangen, es schmiegte Andromeda ihr Haupt an des Pegasus geflügelte Schulter, es strahlte unsichtbar grüßend das Niemalsentschwindende, und aus dem vorväterlich jenseitserschaffenen Äon grüßt zehnfach entzündet das Drachengestirn, verlustig des einstigen Thrones; er starrte empor ins Kühlsteinerne, in dem das Bild des Gesetzes kreist, abgeschieden von ihm der dunkel leuchtende Hauch, abgeschieden von ihm die nimmer sich herabsenkende, immer nur erahnbare Wahrheit in ihrer menschenentrückten Notwendigkeit, und ihr Bild nun sehend, ihr Bild ahnend in der Bilderfülle, die sie ist, wußte er um das in ihm webende Erkennen, wußte er, daß dieses dem Zufall enthoben ist, wußte er um das erwartungslose Warten seiner Erkenntniskraft, befreit von jeder Ungeduld, und er ward bereit für die notwendige Vollendung im Unvollendeten. Da wurde die Hand, die ihn hielt, sanfter und sanfter und wurde Geborgenheit. Und auf den Dächern der Stadt lag grünlich staubkühl das östliche Mondlicht; das Irdische wurde nahe. Denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat, der ist umfangen vom Vorhof einer neuen und größeren Unbekanntheit, umfangen und befangen von einer neuen Besinnung, die ihn wieder ins eigene Geschehen stellt, ins eigene Gesetz, entlöst dem der Wiederkehr, entlöst dem saturnischen Ablauf, entlöst seiner Lauschens-Ungeduld, er ist der Wieder-Aufgerichtete und Aufwärtswachsende, der zu sich selber zurückfindet, und seine Barke gleitet nur noch mit eingezogenen Rudern dahin, leise und erwartungslos in geschenkter Zeit, als stünde die Landung unmittelbar bevor, die Landung am Ufer zufallsenthobener letzter Wirklichkeit;

denn wer die erste Pforte des Schreckens hinter sich gelassen hat,

der ist in den Vorhof der Wirklichkeit eingezogen,

da seine Erkenntnis, sich selbst entdeckend und wie zum ersten Male auf sich selbst gerichtet,

das Notwendige im All, das Notwendige jeglichen Geschehens als das Notwendige der eigenen Seele zu begreifen anhebt; denn der, dem solches widerfährt, der ist hinausgehalten in die Einheit des Seins, in das reine Jetzt, das dem All und dem Menschen gemeinsam ist,

seiner Seele unveräußerlichster Besitzstand,

kraft welchem sie schwebt, schwebend vor Notwendigkeit,

überschwebend den drohend geöffneten Nichts-Abgrund,

überschwebend die Blindheit des Menschen;

denn er ist hinausgehalten in das ewigwährende Jetzt der Frage,

in das ewigwährende Jetzt nichtwissenden Wissens, in des Menschen göttliches Vor-Wissen, nichtwissend weil es fragt und fragen muß, wissend weil es jeder Frage vorangeht, göttlich dem Menschen und nur ihm von Anbeginn verliehen als seine innerste menschliche Notwendigkeit, um derentwillen er stets aufs neu die Erkenntnis zu befragen hat und stets aufs neu von ihr befragt wird,

antwortsbang der Mensch, antwortsbang die Erkenntnis,

erkenntnisgebunden der Mensch, menschheitsgebunden die Erkenntnis,

sie beide ineinandergebunden und antwortsbang,

überwältigt von der Gotteswirklichkeit des Vor-Wissens, von der Wirklichkeitsweite der wissenden Frage, die von keiner irdischen Antwort, von keiner irdischen Erkenntniswahrheit je zu erreichen ist und doch nur hier im Irdischen beantwortet werden kann, beantwortet werden muß,

im Irdischen verwirklicht als das Wechselspiel der verdoppelten Weltgestaltung, Wirklichkeit zur Wahrheit umgestaltet, Wahrheit zur Wirklichkeit,

gemäß dem Befehl, dem die Seele untertan ist,

ihre Notwendigkeit;

denn die zur Frage gespannte Seele ist hineingehalten in ihr Wahrheitsheil, das erkenntnisbefohlen, fragebefohlen, gestaltungsbefohlen, gespannt zwischen Wissens Sicherheit und Erkenntnisfähigkeit, die Wirklichkeit sucht, und solcherart aufgerufen vom Ur-Wissen, aufgerufen von dieser wissenden Frage,

die um des Seins einheitsstiftende Zufallslosigkeit weiß,

hingerufen darob zum erkenntnisgeborenen Wissen,

hingerufen zu seiner Verwirklichung,

hingerufen zur Erkenntnis des Gesetzes, des zufallsentblößten,

ist die Seele in stetem Aufbruch begriffen,

aufbruchsbereit und aufbrechend zur eigenen Wesenheit hin,

zu ihrer Kreatürlichkeit und Außerkreatürlichkeit,

zufallsentblößt beides in der Erkenntnis des Gesetzes,

ihr Ausgangspunkt und ihr Ziel sphärenvereinigt,

den Menschen zum Menschen machend;

denn in den wissenden Erkenntnisgrund seiner Seele ist der Mensch hineingehalten, in den Erkenntnisgrund seines Tuns und Suchens, seines Wollens und Denkens, seines Träumens,

und er ist aufgetan der unendlichen Zufallslosigkeit im Wirklichen,

diesem umfassendsten und gewaltigsten,

ehernsanft wahrhaftigsten Wirklichkeitssinnbild seines Selbst,

in das er heimkehren will und heimkehrt für immerdar,

hineingehalten in das Jetzt seines eigenen Sinnbildes,

auf daß es ihm zur steten Wirklichkeit werde;

denn es ist das Trotzdem seines Aufrufs,

in das der Mensch hineingehalten ist,

das Trotzdem des Ein gekerkerten,

das Trotzdem seiner unverlöschlichen Freiheit und seines unverlöschlichen Erkenntniswillens,

so unbeugsam,

daß er größer als die irdische Unzulänglichkeit wird, über sich hinauswachsend das titanische Trotzdem des Menschentums; wahrlich, in seine Erkenntnisaufgabe ist der Mensch hineingehalten,

und nichts vermag ihn davon abzubringen, auch nicht die Unentrinnbarkeit des Irrtums, verschwindend dessen Zufälligkeit vor der zufallsenthobenen Aufgabe;

denn so sehr der Mensch in der Verkerkerung seiner irdischen Unzulänglichkeit gehalten wird - und gar einer, der mühselig ans Fenstersims angeklammert als ein Kranker und Todesgezeichneter mühselig nach Atem ringt -, und so sehr er bestimmt ist zur Enttäuschung, ausgeliefert jeglicher Enttäuschung im Großen wie im Kleinen, vergeblich jegliche Bemühung, fruchtlos im Vergangenen, hoffnungslos im Zukünftigen, und so sehr ihn die Enttäuschung vorwärtsgejagt haben mag, von Ungeduld zu Ungeduld, von Ruhelosigkeit zu Ruhelosigkeit, den Tod fliehend, den Tod suchend, das Werk suchend, das Werk fliehend, gehetzt und liebend und nochmals gehetzt, schicksalsgetrieben von einem Erkennen zum ändern, weggetrieben vom einstigheimatlichen Leben eines schlichten Schaffens und hingetrieben zur Mannigfaltigkeit jedweden Wissens und weitergetrieben zur Dichtung und weitergetrieben zur Erforschung der alten und verborgensten Weisheit, erkenntnisungeduldig, wahrheitsungeduldig, und wieder zurückgetrieben zur Dichtung, als könnte sie sich für eine letzte Wirklichkeitserfüllung mit dem Tode verschwistern - oh, Enttäuschung auch dies, Fehlweg auch dies -, oh, so sehr dies alles als schierer Fehlweg gelten mußte, ja, einfach Fehlweg war und ist, ja, kaum ein Ansatz zu einem ersten Schritt und bereits fehlgeschlagen vor dem ersten Ansatz, oh, so sehr dieses ganze Leben sich nun als gescheitert zeigt, gescheitert ist, versandet im Unzulänglichen von Anbeginn an, für immer und ewig zum Scheitern verdammt, weil nichts das Gestrüpp je zu durchbrechen vermag, weil der Sterbliche dem Dickicht niemals entkommt, weil er im bewegungslosen Herumirren auf der Stelle, verzweiflungsgebunden und zufallsgebunden, jedweder Furchtbarkeit des Irrtums verhaftet bleibt, oh, trotzdem und trotzdem, nichts ist ohne Notwendigkeit erfolgt, nicht erfolgt ohne Notwendigkeit, da das Notwendige der Menschenseele, da das Notwendige der menschlichen Aufgabe alles Geschehen und sogar den Fehlweg, sogar den Irrtum überwaltet;

denn nur im Irrtum, nur durch den Irrtum, in den er unentrinnbar hineingehalten ist, wird der Mensch zum Suchenden, der er ist, der suchende Mensch;

denn der Mensch braucht die Erkenntnis der Vergeblichkeit, er muß ihren Schrecken, den Schrecken jeden Irrtums auf sich nehmen und, ihn erkennend, bis zur Neige auskosten, er muß des Schreckens inne werden, nicht aus Selbstqual, wohl aber weil nur in solch erkennendem Innewerden der Schrecken zu überwinden ist, weil nur dann es möglich wird, durch des Schreckens hörnerne Pforte hindurch ins Sein zu gelangen;

darum ist der Mensch hineingehalten in den Raum aller Unsicherheit, hineingehalten, als trüge kein Schiff ihn mehr, obwohl er dahinschwebt auf schwebender Barke;

darum ist er hineingehalten in die Räume und Aber-Räume seines Innewerdens, in die Räume seines innewerdenden Ichs, Schicksal der menschlichen Seele, aber derjenige, hinter dem die schweren Torflügel des Schreckens sich geschlossen haben, der hat den Vorhof der Wirklichkeit erreicht, und das nichterkannt Fließende, über das er schwebend dahingleitet, das Nicht-Erkennen, es wird ihm zum Wissensgrund, da es das fließende Wachstum seiner Seele ist, das unvollendbar Unvollendete des eigenen Selbst, dennoch als Einheit sich entfaltend, sobald das Ich seiner selbst inne wird, unvergänglich vor Wachstum die fließende Einheit des Alls ihm inne geworden, von ihm gesehen in einer Gleichzeitigkeit, die kraft ihres Jetzt all die Räume, in die er gehalten ist, zu einem einzigen macht, zum eineinzigen Raum des Ursprunges, und gleich diesem das Ich in sich birgt, um doch vom Ich gehalten zu werden, von der Seele umfangen wird und doch die Seele umfängt, in der Zeit ruhend und die Zeiten bestimmend, dem Gesetz der Erkenntnis verhaftet und die Erkenntnis schaffend, mitschwebend in ihrem fließenden Wachsen, mitschwebend in ihrem schwebend wachsenden Werden, das allein der Wirklichkeitsursprung ist, so jenseitsgroß die Ineinanderverstrahlung des Innen und Außen, daß Schweben und Gehaltenwerden, daß Befreiung und Einkerkerung zu ununterscheidbar gemeinsamer Durchsichtigkeit verfließen, oh, so unvergänglich notwendig, oh, so über alle Maßen durchsichtig, daß in der abgeschlossenoberen Sphäre, allein dem Blick erreichbar, allein der Zeit erreichbar, gewußt in beiden, widergespiegelt in beiden, gespiegelt in dem geöffneten und von ehernsanfter Hand himmelwärts gerichteten Menschenantlitz schicksalsumwoben sternenumwoben das verheißene Geschenk der Nichtvergeblichkeit aufleuchtet, zufallsbefreit geschenkte Zeit für immerdar, erkenntnisoffen der Trost im Irdischen -, und tröstlich im Mondüberrieselten verbanden sich die Sphären, die Himmels- und Erdsphären für immerdar miteinander verbunden, tröstlich gleich dem Atem, der aus mondüberrieseltem All in die Brust zurückkehren soll, tröstlich verkündend, daß nichts umsonst gewesen, daß das um der Erkenntnis willen Getane nicht umsonst getan worden ist und dank seiner Notwendigkeit nicht umsonst gewesen sein konnte. Hoffnung im Nichtvollendeten und Nichtvollendbaren, und daneben, ganz schüchtern, die Hoffnung auf Fertigstellung der Äneis. Hoffnunghallendes Echo der Verheißung im Irdischen, rückhallend in der irdischen Zuversicht; empfangsbereit ist der Sterbliche, umgeben vom irdischen Sein.

Trost und Zuversicht, der Trost der Nichtvergeblichkeit, obwohl die kristallene Decke der Himmelsverborgenheiten sich nicht geöffnet hatte, obwohl kein Bild dort erschienen war, geschweige denn ein letztes Sinnbild; verhüllt war das Auge der Nacht geblieben, ungebrochen sein eigenes, und nach wie vor waren die Unermeßlichkeitszonen bloß in Spiegelung und Gegenspiegelung zu verbinden, nach wie vor war es bloß gewußte,- vom Blick erschaffene Einheit, zu der sich die unermeßlichen Getrenntheiten des Oben und Unten zusammenfügen ließen, nach wie vor war es bloß der Vorhof der Wirklichkeit, in dem er stand, war es bloß der Raum der irdischen Frage, in deren Jetzt er hineingehalten wurde, verwehrt die Vollwirklichkeit letzter Einheit, und trotzdem war es Trost und Zuversicht. Kühlstaubig rann das Mondlicht durch die Nachthitze, durchtränkte sie, ohne sie zu mindern, ohne sich ihr mitteilen zu können, blindkühles Echo des steinernen Himmelsblinkens, gemalt in die hitzige Finsternis. Oh, des Menschen Zuversicht, welche weiß, daß nichts umsonst geschehen ist, daß nichts umsonst geschieht, obwohl es bloß Enttäuschung gibt und kein Weg aus dem Dickicht hinausführt; o Zuversicht, welche weiß, daß selbst dort, wo es zum Unheil ausschlägt, der Erkenntnisgewinn des Erlebten gewachsen ist, bleibend der Erkenntniszuwachs in der Welt, bleibend in ihr das kühlhelle Echo der Zufallslosigkeit, zu der das irdische Handeln des Menschen sich durchzuringen vermag, sooft es seiner erkenntnisbestimmten Notwendigkeit folgt und zu einer ersten Erhellung der Irdischkeit und ihres Herdenschlafes gelangt. Oh, Zuversicht voller Zuversicht, nicht herabgestrahlt vom Himmel, sondern in der menschlichen Seele kraft der ihr auferlegten Pflicht zur Erkenntnis irdisch entstanden -, wird also nicht auch die Erfüllung der Zuversicht, sofern sie erfüllbar ist, ebenso irdisch erfolgen müssen? Das Notwendige vollendet sich stets im schlicht Irdischen; der strömende Kreislauf der Frage wird immer nur im Irdischen seine Schließungsstelle finden, und mag die Erkenntnisaufgabe auch oft und oft bis ins Überirdische reichen, mag ihr sogar die Vereinigung der getrennten All-Sphären aufgetragen sein, es gibt keine echte Aufgabe ohne irdischen Ausgangspunkt, keine, die nicht mit Möglichkeiten ihrer Lösung irdisch verwurzelt wäre. Mondverweht, mondflüchtig lag nun die irdische Welt vor ihm hingebreitet, hatte sich das Menschliche unter sich selbst zurückgezogen, geflüchtet in den Schlaf, verborgen in den schlafsatten Häusern, abgesunken unter sich selbst, abgeschieden von den hinaufgesunkenen Sternen, und die Stille der Welt war zwiefache Verlassenheit zwischen der oberen und der unteren Zone; keine Stimme unterbrach die hauchlose Ruhe, nichts war vernehmbar außer dem leisen Auf- und Abprasseln der Wachtfeuer und den gelangweilt schweren Tritten des längs der äußern Umfassungsmauer patrouillierenden Postens, die rundenmäßig näher kamen und wieder verhallten, doch horchte man genauer hin, so war es, als schwänge auch hier ein leises Echo von irgendwoher mit, ein begleitender Laut, kaum mehr Widerhall, kaum mehr gebrochen, nur noch zerstäubt, dennoch widergebrochen an den Hauswänden des Platzrandes, gebrochen im Winkelwerk der Gassen und der Wohnhöhlen, gebrochen am großen Steingefüge der Stadt und der Städte, gebrochen an den Wänden der Gebirge und Meere, gebrochen an der trübkristallenen Unterwölbung des Himmels, gebrochen am Sternenlicht, gebrochen am Unerkennbaren, hingehaucht und zerstäubungsgebrochen, in Zitterwellchen heranschwingend, alsogleich jedoch wieder wegschwindend, sobald man es erhaschen wollte. Aber irdisch vorhanden und dabei seltsam sphärenverbunden hielt das schwache Geprassel der Feuer hinter der Mauer weiter an, und wenn auch manchmal gleicherweise bis ins Echohafte und Unsichtbare verebbend, wenn auch selber eingereiht in die Kette der Bilder und Aber-Bilder, es war wie ein Hinweis auf die Nicht-Vergeblichkeit der menschlichen Bemühung, wie ein Hinweis auf den irdischen Ursprung des der Menschenseele eingeborenen titanischen Einheits-Willens; es war wie eine Aufforderung an die Erkenntnis, sich zur Erde hinab und ins Irdische zu wenden, um hier ihre Erneuerungskraft zu finden, das Prometheische, das aus dem unteren Bereich und nicht aus dem oberen herstammt. Ja, dem irdischen Bereich hatte er seine Aufmerksamkeit zuzuwenden, und aufmerksam wartete er, sehr atemmüde über die Fensterbrüstung gebeugt, das Notwendige erwartend, das da kommen sollte.

Unter ihm gähnte es in brunnengleicher Schwärze, der schmale Raum zwischen dem Palast und der Umfassungsmauer, unbeleuchtet tief der schwarze Grund des Schachtes, während hinter der Mauer, völlig von ihr verdeckt, lediglich im Widerschein sichtbar, eines der Wachtfeuer brannte, und wenn der Wachtposten auf seinem Gang den kleinen Flackerbereich durchquerte, dann glitt über das mattrötlich beschienene Steinpflaster undeutlich der Schatten des Mannes hin, ein dunkles Schattenhauchen, das manchmal an der gegenüberliegenden Gebäudewand hochsprang, zackig und augenblicksrasch, fast unwirklich vor seltsam unvermuteter Beweglichkeit. Was dort unten, verdeckt von der Mauer, vor sich ging, war simpelste militärische Pflichterfüllung, nichtsdestoweniger, eben wie jede menschliche Pflichterfüllung, seltsam mit dem Wissensgrund der Erkenntnis, mit der Erkenntnisaufgabe schlechthin und ihrer Nichtvergeblichkeit verbunden; was da geschah, ging im Vorhof der Wirklichkeit vor sich, in der Nähe des Endgültigen.