Und nicht aus der Sternen Sphäre, und nicht aus der Zwischensphäre unter den Sternen wird der Durchbruch zur Ur-Wirklichkeit erfolgen, nicht dort wird sich die verheißene Nichtvergeblichkeit erfüllen, wohl aber in der Sphäre des Menschen, und vom Menschen aus wird der Anstoß zur Durchbrechung der Grenzen erfolgen; göttlich ist der Mensch hiezu vorbestimmt, göttlich ist ihm die Zuversicht hiezu verliehen, göttlich seine Notwendigkeit, und mag auch der Zeitpunkt des großen Wirklichkeitsgelingens so wenig voraussagbar sein, daß keiner erforschen kann, ob das schicksalsverborgene Ereignis in unerlebbarer Zukunft oder in unmittelbarem Jetzt statthaben wird, oder ob es nicht sogar schon eingetreten ist, unabweislich ergeht aus dem Schicksalsverborgenen, drängend und mahnend, das Geheiß zur Wachsamkeit, das Geheiß jeden Augenblick festzuhalten, gewärtig des Augenblicks der Offenbarung, der Offenbarung im Zufallslosen, im Gesetze, im Menschlichen.
Der Befehl tönte aus dem Unerforschlichen, und er tönte in dem verloren-unhörbaren, pochenden Klingen des müdheißen, fiebrigen, monddurchflossenschwarzen Glastes, der das Irdische umfing, unbeweglich über die Dächer hinfloß, zum Fenster herfloß und auch ihn, der hier stand, umfangen hielt, ihn mit dem Befehl zur Wachsamkeit einhüllend, als wäre diese ein Teil des Fiebers. Und fiebernd richtete er seine Wachsamkeit auf das Sichtbare, schier sehnsüchtig, daß dort irgendwo ein menschliches Lebewesen sich zeige. Nichts zeigte sich. Landwärts im Südwesten stand das dräuend hellglänzende Bild des Skorpions, stand über einer verflimmernden Erde, es verflimmerte die Grenze zwischen den Stadthäusern da draußen und den von ihnen halbverdeckten Nachthügelwellen der Landschaft, es verflimmerten die auf- und abwogenden Wellen der Felder und Haine und Wiesen, ihre Halmwellen, ihre Laubwellen, vom Monde kühlsteinern durchflossen und von letzter Unendlichkeitsschwärze hinterwölbt, sie verflimmerten in den steinern tönenden, steinern kühlen, steinern bebenden Fieberwellen des eingefluteten Sternenraumes, nachtgetränkt, lichtgetränkt, dahingleitend und vergleitend, dahinströmend, und das blasse Glänzen hatte kein Ende im Unsichtbaren. So flutete es dorthin und flutete zurück, heißkühl und schattenlicht im doppelten Ursprung, hinabgesenkt in die Schwärze, hinabgeflossen in die Schächte der Höfe, der Plätze, der Gassen, hingebreitet über das Sichtbar-Unsichtbare des Irdischen. Schräg gegenüber mündete eine Gasse in den Platz; in ihrer geraden Strecke dem Blicke geöffnet, war sie vom Monde hell durchstrichen, nur hie und da war sie von höheren Häusern überdunkelt, und an der Dächerflucht war zu erkennen, daß sie in ihrem weitern Verlaufe zum Stadtrande hinführte, in einer leichten Doppelbiegung, die der des Skorpionenbildes dort drüben glich und darauf hinzielte, verführerisch die Formähnlichkeit, verführerisch das Hinzielen, ja so sehr verführerische Verlockung, daß sie zu Bangigkeit wurde, zu einer Sehnsucht, hinwandern zu dürfen, die Straße entlang, ihre Biegungen leicht durcheilend, ins Land hinaus, dem Sternbilde zu, Heimat um Heimat durchwandernd, die Haine der Lichtfieber und der Schattenfieber durchquerend, heiter der Traumesschritt, der sie durchfliegt; oh, hinauszuwandern über die Blickstraßen, die im Ziele wieder den Ursprung enthalten, für ewig und ohne Umkehrung. Keines Führers bedarf es auf solch leichtem Wege, aber auch keines strengen Erweckers, denn ohne Unterlaß währt der durchleuchtet-schimmernde Schlummer der Welt; es galt bloß vorwärtszuschreiten, vorwärtszuwandern im Unerrufbaren, geöffnet alle Grenzen, und nichts vermag den Wandelnden mehr aufzuhalten, niemand überholt ihn, niemand kommt ihm entgegen, das Göttliche eilt ihm nicht voraus, und er begegnet nicht dem Tierischen, unbeschwert von beiden ist sein Fuß, aber die Richtung, die er geht, ist die des Trostes und der Zuversicht, ist die der Notwendigkeit, ist die des Gottes. War es so? gab es hier wirklich keine Gegenrichtung mehr? Wird nicht doch noch einer in der Gegenrichtung daherkommen, zurückstrebend ins Tierische, zurückfallend ins Untierische?
Es hieß warten, mit großer Geduld warten, und es dauerte lange, unerträglich lange. Dann jedoch, dann kam etwas. Und sonderbar, das was kam, obwohl das Gegenteil alles Erwartbaren, war gleichfalls wie von Notwendigkeit herbefohlen. Zuerst kam es als Hörbild, nämlich als das langsam aus der Stille sich lösende Hörbild von Schlurfschritten und undeutlichem Gemurmel, und es blieb eine geraume Zeit im Schatten versteckt, ehe die zugehörigen Gestalten auftauchten, drei undeutliche weiße Flecken, die schwankend und oftmals stockend, ineinander verfließend und wieder auseinanderstrebend, sichtbar im Mondlicht, untertauchend ins Dunkel, gleichsam widerwillig sich heranschoben. Atemlos vor gespannter Wachsamkeit, atemlos vor Beklommenheit im unatembaren Nachtglast, krampfverschränkt die Hände, krampfhaft die Finger über den Ring verschränkt, krampfhaft zum Fenster hin vorgebeugt und den Kopf weit vorgestreckt, verfolgte er das Herannahen der drei Erscheinungen. Für eine Weile blieben sie nun stumm, dann aber, im Gegensatz zu dem vorher gegangenen undeutlichen Gemurmel, plötzlich scharf und äußerst deutlich, wurde eine Stimme laut, eine krähende Tenorstimme; beinahe schreiend, als hätte sich ihr Träger zu einem unwiderstehlich endgültigen Entschluß aufgerafft, erfolgte die Verkündigung: «Sechs Sesterzen.» Wieder wurde es stumm, fast hatte es den Anschein, als ließe das Endgültige überhaupt keine Antwort mehr zu, doch dann wurde sie trotzdem erteilt: «Fünf», sagte eine zweite Mannsstimme, unwohlwollendwohlgelaunt, in einem ruhigen, nahezu schläfrigen Baß, der zweifelsohne jede weitere Verhandlung abschneiden wollte: «Fünf.» - «Scheiße, sechs!», krähte uneingeschüchtert die erste Stimme, worauf sich nach einigem unverständlichen Hin und Her der Baß ins ruhig Endgültige zurückzog: «Fünf, und nicht einen Aß mehr.» Sie blieben stehen. Bisher war nicht zu ergründen, um was da gehandelt wurde, indes nun mischte sich die dritte Stimme ein, und es war die eines betrunkenen Weibes: «Sechse gibst ihm!», befahl sie mit einem umkippend fettigen Kreischen, hinter dessen ungeduldig fordernder Dringlichkeit irgend etwas kriecherisch Erbötiges herauslugte, freilich ohne damit viel zu erreichen, denn nun bestand die Antwort bloß aus einem kehlighöhnischen Lachen. Und gereizt von dem Lachen und dem unangreifbaren Hohn, überschlug sich die Weibsstimme zur Wut: «Am meisten fressen, aber nix zahlen... Fleisch willst haben, und Fisch willst haben, und alles...»; und als daraufhin wiederum nur das bellende Mannslachen ertönte, ging es weiter: «Mehl soll ich kaufen, und Zwiebel, und alles, und Eier und Knoblauch, und Öl, und Knoblauch... und Knoblauch...» - betrunken japsend, begleitet von dem sie anfeuernden Mannslachen, das in ein breitkeuchendes Gurgeln übergegangen war, hielt sie sich an der Unerschwinglichkeit des Knoblauchs fest -, «Knoblauch willst ham... Knoblauch...» - «Hast recht», krähte der Tenor dazwischen und entschied sich mit unvermitteltem Gedankensprung zu einem «Gib Ruh!» Sie jedoch, als hätte das Wort aufklärerische Kraft, ließ sich nicht abhalten: «... Knoblauch... Knoblauch soll ich kaufen...» Sie waren neuerlich von der Dunkelheit aufgenommen worden, aus der Dunkelheit erscholl der Ruf nach Knoblauch weiter, und wirklich wie aufs Stichwort war mit einemmal die fiebrige Finsternis der Nacht von sämtlichen Küchengerüchen, welche die Stadt nur aushauchen konnte, beladen und geschwängert, schwer, satt, geil, ölig, bequem und furchtbar, verdauend und verwest, verprasselt, pfannenstinkend, wiederkäuerisch, die schlafsüchtige Nahrung der Stadt. Für einige Augenblicke wurde es still, sonderbar erstickt, als wären von dem trägen Dunst auch die drei da drunten verschluckt worden, und selbst nach ihrem Wiedereintritt ins Helle hatten sie nichts mehr zu sagen; das Argument des Knoblauchs war ausgeschöpft, sie kamen stumm heran, deutlicher und deutlicher werdend, allerdings bei aller Stummheit keineswegs friedfertig geworden: zuvorderst zeigte sich ein auffallend dürrer Kerl, der mit hochgezogener Schulter an einem Stocke hinkte und diesen drohend hob, so oft er stehenbleiben mußte, um die beiden anderen nachfolgen zu lassen, in einiger Entfernung hinter ihm das Weib, dick und massig, und schließlich, womöglich noch dicker, womöglich noch besoffener, jedenfalls noch schwerfälliger, der andere Mann, ein breitbauchiger Turm, der den ständig wachsenden Abstand zu der Frau hin nicht aufzuholen vermochte und endlich mit einem greinenden Piepsen und aufgehobenen Kinderhänden sie aufzuhalten trachtete; so kamen sie daher, ein schwankend unsicherer Anblick, der noch ein wenig unsicherer wurde, als sie an der Straßenmündung in den schwankenden Schein des Wachtfeuers gerieten; so waren sie hier vor seinen Augen angelangt mitsamt ihrem neuausbrechenden Hader, da der hinkende Anführer mit einer hafenwärts gerichteten Linkswendung sich anschickte den Platz zu überschreiten, und die Frau ihm ein «Scheißkerl!» nachgellte, so daß er, haltmachend und sein Vorhaben aufgebend, sich umkehrte und mit fuchtelndem Stock auf sie losging, zwar nicht furchteinflößend für die unentwegt Weiterkeifende, wohl aber für den dicken Turm, der sich piepsend zur Flucht wandte und damit die Frau zwang ihm nachzulaufen und ihn zurückzuzerren -, ein Erfolg, der für den ändern so erfreulich war, daß er den Stock sinken ließ, um nun erst recht jenes bellend dickkehlige Hohnlachen auszustoßen, das schon vordem die Frau zur Raserei gebracht hatte. Alsogleich stellte sich das nämliche Ergebnis ein, die Frau wurde rasend: «Heimgehen!», herrschte sie den dürren Lacher an, und als dieser mit hin- und herwippendem, ausgestrecktem Finger, seine frühere Absicht unterstreichend, in die Hafenrichtung wies, streckte sie, keuchend vor schwabbelnder Aufregung, ihrerseits den Arm in die entgegengesetzte Richtung aus: «Mach, daß du heimkommst, in der Stadt hast nix mehr zu suchen... mir machst nix vor, ich weiß schon, was du dorten hast, ich kenn sie schon, deine Schlampen...» - «Hoh?», der wippende Finger kam zur Ruhe, die Hand formte sich zum Becher und zur Trinkgebärde. Dies war für den Dicken, der sich an die Hausmauer gelehnt hatte, so einleuchtend, daß er zu der Endgültigkeit seiner Entschlüsse zurückfand: «Wein», gluckste er verklärt, und setzte sich in Bewegung. Die Frau versperrte ihm den Weg: «Ah, Wein», geiferte sie, «Wein?... zu seiner Schlampen will er, und ich, ich soll ihm kochen... Schweinefleisch will er haben und alles will er haben...»-«Schweinchenfleisch», krähte der Tenor. Verächtlich stieß sie ihn zu der Mauer zurück, aber beinahe weinerlich wandte sie sich dem ändern zu: «Alles willst haben von mir, aber nix zahlen...» -«Fünfe zahl ich ihm, hab ich gesagt... komm mit, kriegst Wein.» - «Pfeif auf dein’ Wein... sechse zahlst ihm.» - «Er kriegt auch Wein.» - «Er braucht dein’ Wein nicht.» - «Das geht dich ein Dreck an, du Aas; fünfe zahl ich ihm, nicht ein Deut mehr, und Wein kriegt er.» - «Fünfe», erklärte mit Würde der Fettwanst an der Mauer.
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