Ich weiß nicht, wo ich bin, nur sehr
fern von Haus. Ich weiß nicht, wie spät es ist, aber noch ist es Nacht.
Zwei Hände breit steht der Mond noch über dem Horizont. Und ich wandere. Ich wandere durch ein
schlafendes Dorf. Nirgends ist mehr Licht, alle schlafen, nur ich bin noch unterwegs, ich, Erwin
Sommer, Inhaber eines Landesproduktengeschäftes en gros. Nicht mehr, nicht mehr, das war einmal.
Was hier wandert durch die monderfüllte Nacht, was ist das noch? Es war einmal - lange ist's her.
Versunken, vorbei, fast vergessen... Ein Hund erwacht in seiner Hütte von meinem Schlurfschritt,
schlägt an, fängt an zu kläffen, andere Hunde erwachen, und nun bellt das ganze Dorf, und ich
schlurfe hindurch, auf blutigen Sohlen, ein Stromer, und gestern war ich noch... O schweig stille
-! Und im Schatten des hölzernen Kirchtums bleibe ich stehen, wieder einmal hebe ich die Flasche
zum Mund und trinke. Das lullt die Fragen ein, das bringt die Schmerzen zur Ruhe, das ist eine
Peitsche für die nächste halbe Stunde Weg... Aber nicht viel ist mehr in der Flasche, ich muß den
kostbaren Stoff zu Rate halten.
Den letzten Schluck - und er muß groß sein! - trinke ich auf der Schwelle meines Hauses, ehe ich
vor Magda trete. Aber Magda schläft, ich werde ganz leise mich auf ein Sofa legen, heute nacht
wird es keine Auseinandersetzung mehr geben. Und morgen?
Morgen ist sehr weit, bis morgen werde ich tief, tief schlafen, ich werde alles vergessen, was
heute war, ich werde wieder der Chef der Firma sein, der wohl einen kleinen Fehler begangen hat,
aber der auch die Fähigkeit besitzt, die Scharte wieder auszuwetzen... Ich habe die leere Flasche
in einem Gebüsch des Gartens verborgen, nun steige ich auf meinen nackten Füßen ganz leise die
Stufen zur Haustür empor. Auch das leise Öffnen des Schlosses gelingt mir leicht. Ich bin jetzt
nicht mehr die Spur betrunken, obgleich ich eben erst nicht nur einen, nein, sogar zwei sehr
große Schlucke Korn genommen habe - der Rest in der Flasche war größer gewesen, als ich erwartet
hatte. Aber das ist nur gut, um so klarer und sicherer bin ich jetzt. Ich werde keinen Fehler
begehen, niemanden werde ich wecken. Wie listig ich bin. Es zog mich ins Badezimmer, mir die
blutigen Füße zu waschen, aber mein klarer Kopf erinnerte mich, daß das Rauschen der Hähne dort
Magda wecken würde, und jetzt schleiche ich in die Küche. In der Küche darf ich mich waschen,
neben der Küche schläft nur die kleine Else, sie meint es gut mit mir.
Sie hat mich getröstet, sie ist nicht tüchtig und hart wie Magda.
Ich mache Licht, ich sehe mich in der Küche um. Ich wähle eine große Emailleschüssel, und ich
denke daran, im Boiler am Herd nachzusehen, ob dort noch etwas warmes Wasser ist. Das Wasser ist
wirklich noch lau, ich bin stolz auf meine Tüchtigkeit, ich hole Waschseife, das Küchenhandtuch,
die Geschirrtücher und eine Bürste. Dann setze ich mich auf einen Stuhl und stecke die Füße ins
Wasser. Ach, wie gut das tut, wie sanft dieses laue Streicheln ist! Ich lehne mich zurück, ich
schließe die Augen - wenn ich jetzt noch etwas zu trinken hätte, würde ich ganz glücklich sein.
Irgend etwas fehlt immer am menschlichen Glück, ganz zufrieden werden wir nie. Ich habe den
Rotwein ausgetrunken, sonst gibt es nichts zu trinken in diesem Haus.
Ich muß mir gleich morgen einen Weinkeller zulegen, und ein paar Flaschen Schnaps müssen auch in
ihm sein. Schnaps ist etwas sehr Gutes - wie schade, daß ich so viele Jahre versäumt habe, in
denen ich hätte Schnaps trinken können - in aller Mäßigkeit natürlich. Ich lehne mich noch weiter
zurück, genieße das Bad, fühle die brennenden Schmerzen nachlassen... Und springe plötzlich auf!
Das Wasser schwappt aus der Schale und überschwemmt den Fliesenboden. Aber das ist jetzt ganz
egal!
Eine Erleuchtung ist über mich gekommen! Natürlich haben wir noch etwas zu trinken im Haus! Hat
denn nicht Magda Madeira für manche Suppen, zum Beispiel für die Ochsenschwanzsuppe?
Und besitzt sie nicht Rum zum Sterilisieren ihrer Gelees? Ich weiß das doch aus den
Haushaltsbüchern! Und ich laufe mit meinen nackten Füßen in die Speisekammer, ich suche, ich
rieche an Flaschen, ich rieche Essig und Öl - und hier, da steht es ja: Fine old Sherry
und hier sogar Portwein, dreiviertel voll die Flasche, und Rum, halb voll - oh, wie schön ist das
Leben.
Rausch, Vergessen, auf dem Strome des Vergessens dahintreiben, in die Dämmerung hinein, tiefer in
die Schwärze hinab, dorthin, wo es weder Versagen noch Reue gibt... Guter Alkohol, sei gegrüßt,
la reine Elsabe, an deiner nackten Brust habe ich geruht, den Ruch von Haar und Fleisch geatmet!
- Ich habe die Schüssel wieder gefüllt, ich habe die drei Flaschen aufgekorkt vor mich aufgebaut,
ich habe einen tiefen Zug aus der Rumflasche getan.
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