Mir ist sehr schlecht, mein Magen hat
ein trockenes Brennen, nur langsam entschließt sich mein Kopf zu denken. Nur langsam kommen mir
die Erinnerungen an die vergangene Nacht zurück, dann fühle ich die Schmerzen in den Füßen. Ich
streife die Decke zurück und sehe die Verbände. Und mit einem Schlage steht alles wieder vor mir:
das Lauern vor meinem eigenen Geschäft nach den Schatten auf der Glasscheibe, die gemeine
Trinkerei in der Schankstube, die schamlose Szene in der Kammer des gemeinen Mädchens, mein
schuhloser betrunkener Heimweg und, als Schlimmstes von allem, die Szene in der Küche mit Magda!
Wie ich mich beschmutzt habe, ach, wie ich mich beschmutzt habe. Eine brennende Reue überfällt
mich. Scham, peinigende, schmerzende Scham, ich verberge mein Gesicht mit den Händen, ich presse
die Augen fest zu... Ich will nichts mehr sehen, ich will nichts mehr hören, nichts mehr
denken!
Ich stöhne, ich beiße die Kiefer zusammen, ich knirsche mit den Zähnen. Ich stöhne: Es kann
nicht wahr sein! Es ist nicht wahr! Das bin ich nicht gewesen, ich habe alles nur geträumt!
Ich muß alles vergessen, auf der Stelle muß ich alles vergessen!
Es darf nichts wahr sein!
Das schüttelt mich wie ein Krampf, und dann kommen die Tränen, Tränen über all das, was ich so
mutwillig verlor. Endlose, bittere, lange, schließlich doch lösende Tränen.
Und als ich mich ausgeweint habe, ist immer noch die Sonne vor meinen Fenstern, wehen die
frischen duftigen Vorhänge im leichten Winde. Immer noch ist das Leben da, jung und lächelnd, du
kannst es in jeder Stunde noch einmal beginnen, es kommt nur auf dich an. Neben meinem Bett steht
ein Tischchen mit einem Frühstückstablett, der Kaffee ist sorgsam mit einer Haube verdeckt, und
nun beginne ich zu frühstücken. Die ersten Bissen der Semmel kaue ich noch zäh und träge im
Munde, aber der Kaffee ist extra stark zubereitet; allmählich kommt der Appetit wieder, und ich
genieße mit dankbarer Freude all das, was mir Magdas Sorgsamkeit an Extrabissen auf das Tablett
gestellt hat: scharfe Anchovis, eine schöne fette Leberwurst und wunderbaren Chesterkäse. Selten
habe ich mit solchem Genuß gegessen, ich fühle mich wie ein Genesender. Dankbar begrüße ich die
säuberlichen Dinge der bekannten Umwelt, grüße sie wie alte vertraute Freunde, die man lange
entbehrt hatte. Nun finde ich auch auf dem Nachttisch einen Zettel von Magda. Sie teilt mir mit,
daß sie nur auf wenige Stunden ins Geschäft gegangen sei, sie bittet mich, bis zu ihrer Rückkunft
im Bett oder doch im Hause zu bleiben; das Bad sei für mich geheizt.
Eine halbe Stunde später verlasse ich das Haus. Zwar macht mir das Gehen mit meinen wunden Füßen
arge Schmerzen, aber ich bin nicht gesonnen, weiter tatenlos zu verharren. Ich habe mich
gesäubert von oben bis unten, ich zog frische Wäsche an, meinen besten Anzug - und nun will ich
meinen alten Platz in der Welt wieder einnehmen. Wenn ich auch nicht so tatkräftig wie Magda bin,
möchte ich doch wieder die Bremse am eilig vorgetriebenen Wagen sein: die Fahrt regelnd und
sichernd!
Ich zögere nicht, ich schiele nicht von Torwegen her nach Schatten; ich trete ohne weiteres ein.
Ich grüße die Angestellten in meinen beiden vorderen Büros freundlich und trete in mein Chefbüro
ein. Magda springt von meinem Schreibtischsessel auf; früher hat sie dort nie gesessen, wenn ich
nicht anwesend war; sie hatte einen Platz an einem Nebentisch. Ein wenig schmerzt es mich, daß
sie mich so ganz schon von der Liste der Mittätigen ausgestrichen hat; sie wird auch sehr rot.
»Erwin, du?« ruft sie. »Ich dachte...« Und sie schaut erst mich, dann Herrn Hinzpeter an. »Guten
Morgen, guten Morgen, Herr Hinzpeter«, sage ich freundlich und lasse mir nichts anmerken. »Ja, du
dachtest... aber ich fand, daß es mir heute früh doch schon erträglich ging, bis auf die Füße...
die Füße natürlich... aber lassen wir das. Nun erzähle mir, was ihr festgestellt und was ihr
vielleicht sogar schon beschlossen habt. Werden wir den Verlust der Gefängnislieferungen
verschmerzen können -?« Ich hatte mich in den Sessel an meinen Schreibtisch gesetzt. Ich sah sie
freundlich an, ganz der Chef, der bereit war, die Vorschläge seiner Angestellten wohlwollend
anzuhören, ehe er seine Entscheidung traf. Ich hatte - kaum eine Stunde war es her - in einem
Krampf geschrien, daß ich vergessen wollte, daß ich vergessen mußte...
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