Und nun saß ich hier, ich,
ich konnte nicht vergessen, schon Magdas Blässe, schon meine in den engen Schuhen schmerzenden
Füße erinnerten mich stets, aber sie mochte ich vergessen. Keine fünf Minuten, und es mußte Magda
wie ein böser Traum vorkommen, daß sie mich vor noch nicht zwölf Stunden am Küchentisch hatte
sitzen sehen, drei Flaschen vor mir, die verschmutzten Füße in einer Schüssel, der Fliesenboden
überschwemmt - nichts wie ein böser Traum! Vergessen! Vergessen!! (Auch dies, es war mir klar,
war Schamlosigkeit; wortlos ging ich über das Geschehene fort, wischte es aus, duldete keine
Anspielung, keinen nachdenklich forschenden Blick... schamlos auch das!) Im übrigen zeigte es
sich, daß ich nicht umsonst auf Magdas Tatkraft gerechnet hatte.
Schon am frühen Morgen hatte sie bereits einen Besuch bei ihrem Freund, dem Oberinspektor,
gemacht, um festzustellen, ob nicht vielleicht doch noch etwas zu retten war. Und, siehe, dieser
brave Mann hatte ihr wirklich einen Tip gegeben, einen sehr wertvollen Tip... Ein Teil der
Gefangenen wurde im Anfang der Strafzeit in Einzelzellen mit Wergzupfen beschäftigt, altes
verbrauchtes oder zerrissenes Tauwerk wurde wieder in seine Grundbestandteile zerlegt, zerzupft,
mit dem gewonnenen Werg konnten wieder neue Seile gemacht werden... Der Bedarf an solchem Tauwerk
war immer recht groß, und gerade im Augenblick waren die Vorräte der Gefängnisverwaltung darin
ziemlich am Ende. Der Oberinspektor hatte Magda vorgeschlagen, nach Hamburg zu fahren und dort
altes Seilwerk aufzukaufen, zwei oder auch drei Waggons. Seinen Angaben nach war dabei ein recht
gutes Geschäft zu machen, wenn man nur die rechten Quellen kannte, und er hatte es sogar nicht an
Hinweisen auf diese guten Quellen fehlen lassen.
Wie gesagt, ich hörte mir das alles wohlwollend an. Es war natürlich nur ein kleines
Gelegenheitsgeschäft, das auch bei günstigstem Einkauf nicht annähernd eine dreijährige
Lebensmittellieferung für annähernd fünfzehnhundert Menschen ersetzen konnte, aber es war
mitzunehmen, wenn es eigentlich auch nicht in den Rahmen meines Geschäftes paßte.
»Und wer, dachtest du, soll fahren, Magda?« fragte ich. »Du selbst etwa -?«
»Nein, so gern ich möchte«, antwortete sie zögernd. »Ich glaube, ich kann im Augenblick schlecht
fort. Gerade jetzt...« Sie brach ab und sah mich etwas hilflos und doch mit Bedeutung an. Dies
war einer jener Blicke, die ich unter keinen Umständen dulden wollte. »Du hast ganz recht,
Magda«, antwortete ich darum, »du bist hier im Augenblick wirklich schlecht abkömmlich. Und dann
ist da dein Haushalt. Else ist doch noch sehr jung... (gute, tröstende Else-!) Es ist schon das
beste, ich fahre selbst. Ich fühle mich wieder ganz frisch, und mit meinen Füßen, das werde ich
mir schon so einrichten... Ich kann ja Taxen nehmen...«
Hastig unterbrach mich Magda: »Du kannst keinesfalls fahren, Erwin. Du weißt, du bist noch nicht
ganz in Ordnung.«
Sie sah mich fest an, nicht böse, sondern eher traurig-liebevoll, aber unausweichlich und fest.
Diesmal senkte ich den Blick.
»Nein«, fuhr sie fort, »das beste ist, wir schicken Herrn Hinzpeter. Er könnte heute abend noch
fahren und wäre dann vielleicht schon übermorgen früh...«
»Einen Augenblick bitte, Magda«, unterbrach ich sie. »Besten Dank, Herr Hinzpeter, ich rufe Sie
dann gleich wieder...«
Ich wartete, bis sich die Tür hinter dem Buchhalter geschlossen hatte. Dann sah ich Magda fest
an.
»Magda«, sagte ich, »wir wollen das Vergangene ruhen lassen, wir wollen nie mehr davon sprechen.
Es soll für immer vergessen sein.«
Sie machte eine Bewegung, als wollte sie reden, dieser vielleicht etwas zu einfachen Lösung
widersprechen.
»Nein, nein, Magda«, sagte ich darum eilig, »laß mich erst ausreden. - Ich bitte dich herzlich,
laß du mich nach Hamburg fahren, es liegt mir sehr viel daran, und mit den Füßen, das richte ich
schon...«
Wieder machte sie eine heftige Bewegung, als seien meine Füße im Moment ganz belanglos. Diese
Interesselosigkeit an meinem Wohlergehen kränkte mich sehr, aber ohne mir etwas anmerken zu
lassen, fuhr ich fort: »Es wird für meine Stimmung sehr gut sein, wenn ich für ein oder zwei Tage
hier herauskomme.« Leiser setzte ich hinzu: »Dieser Mißerfolg mit den Lebensmittellieferungen hat
mich doch recht mitgenommen, ich komme mir doch sehr blamiert vor.«
Sie sah mich sehr fest an.
»Erwin«, sagte sie, »du hast selbst gesagt, wir wollen das Vergangene ruhen lassen, und ich will
damit einverstanden sein, obwohl...« Sie brach ab. »Aber nun fange nicht du selbst wieder davon
an. - Was aber deine Reise nach Hamburg angeht, so bin ich fest davon überzeugt, daß sie dir
jetzt nicht gut ist. Nicht Ablenkung brauchst du, sondern Ruhe und Konzentration. Ich habe uns
übrigens beide für heute nachmittag bei Doktor Mansfeld angemeldet...«
»Das ist wieder so eine von deinen Eigenmächtigkeiten, Magda!« rief ich ärgerlich. »Was soll ich
bei Doktor Mansfeld? Ich bin völlig gesund.
1 comment