Dann kamen mir fast die Tränen der Rührung über mein
schlimmes Los und Magdas Ungerechtigkeit in die Augen. Zwischendurch verfütterte ich, da ich wie
meist in der letzten Zeit nicht den geringsten Hunger verspürte, mein Frühstücksbrot an dörfliche
Enten und Gänse, tauchte auch von Zeit zu Zeit hinter einer Hecke vor aller Sicht unter und nahm
einen Schluck. Ich verlor nie ganz ein leises Gefühl der Beschämung darüber, daß ich, Erwin
Sommer, mich hinter einer Hecke versteckte, einen Flaschenhals an den Mund setzte und Schnaps in
mich hineinlaufen ließ wie der letzte Walzenbruder. Es wurde mir nicht selbstverständlich,
dagegen stumpfte ich nicht völlig ab. Doch es mußte nun einmal sein, es ging eben nicht
anders.
Kurz vor meinem Ziel war ich mit meiner Flasche alle, ich warf sie in den Straßengraben und
machte mich an die letzten fünf Minuten Weg. Vom Kirchturm des Dorfes läutete es gerade zur
Mittagsstunde; vor mir, an mir vorbei, mir nach zogen die Dörfler, die vom Felde kamen, Hacken
und Spaten auf der Schulter. Manche grüßten mich, andere sahen mich nur musternd von der Seite
an, wieder andere schließlich stießen sich an, verzogen die Gesichter und lachten, während sie an
mir vorbeigingen. Es mochte ja nur die übliche dörfliche kritische Einstellung dem stadtfein
angezogenen Fremden gegenüber sein, ich hatte aber doch den Argwohn, daß mir vielleicht etwas von
meinem Alkoholgenuß anzumerken oder etwas an meiner Kleidung nicht in Ordnung sei. Ich hatte es
schon erfahren, daß eine der schlimmsten Gaben, die der Alkohol mit sich bringt, dieses
Unsicherheitsgefühl ist, ob irgend etwas an einem nicht ganz stimmt. Man kann sich noch so oft im
Spiegel mustern, die Kleidung ablesen, jeden Knopf nachprüfen - nie, wenn man etwas getrunken
hat, ist man ganz sicher, daß man nicht doch etwas übersehen hat, etwas ganz offen zutage
Liegendes, das man aber doch trotz gespanntester Aufmerksamkeit immer wieder übersieht. Im Traum
hat man ganz ähnliche Gefühle, bewegt sich heiter in der gewähltesten Gesel schaft und entdeckt
plötzlich, daß man vergessen hat, seine Hosen anzuziehen.
Also: Dieses Angestarrtwerden wurde mir lästig, zudem fiel mir ein, daß gerade die lebhafte
Mittagsstunde nicht die richtige Zeit sein würde, meine Hübsche aufzusuchen; ich schlug einen
seitab führenden Feldweg ein und warf mich unter einem schattenden Gebüsch ins Gras. Sofort
verfiel ich in Schlaf, in jenen tiefschwarzen Schlaf, den der Alkohol bringt, wobei man
gewissermaßen ausgelöscht ist, einen befristeten Tod stirbt.
Keine Träume gibt es da mehr, keine Ahnung von Licht und Leben - fort ins Nichts! Das ist es. -
Als ich wieder erwachte, stand die Sonne schon tief, ich mußte vier, vielleicht sogar fünf
Stunden geschlafen haben. Wie immer in dieser Zeit hatte mich der Schlaf gar nicht erfrischt, ich
erwachte alt und müde, ein zittriges Gefühl in den Gliedern.
Meine Knochen waren steif, als ich mich aufrichtete; und mit dem Gehen kam ich nur schwer
zurecht. Ich wußte aber jetzt schon, daß das alles mit den ersten Schnäpsen, die ich zu mir nahm,
sich rasch geben würde, und beeilte mich darum, in den Gasthof zu kommen.
Ich hatte die Stunde gut gewählt: wieder einmal war die Schankstube leer, auch hinter der Theke
stand niemand. Steif ließ ich mich in einen Korbsessel fallen und hallote durstig nach der
Bedienung. Erst steckte sich ein Mädchenkopf durch die Türspalte, es war aber nicht meine blasse
Hübsche, sondern ein zottliges, rotnasiges Wesen älterer Machart, dann sah eine dicke Frau zu mir
hin, rief: »Gleich! Gleich!« und öffnete die Treppentür, die ich in jener Nacht, blind an der
Hand geführt, hinaufgestiegen war.
»Elinor! Elinor! Komm runter!« rief die Wirtin, versicherte mir noch einmal, daß ich gleich
bedient werden würde, und verschwand wieder in der Küche. Also Elinor hieß sie, da hatte ich mit
Elsabo nicht ganz schlecht geraten. Aber Elinor war auch sehr gut, war eigentlich noch besser.
Elinor paßte zu ihr, Elinor, la reine d'alcool, wirklich sehr hübsch!
Und da hörte ich sie auch schon die Treppe herunterkommen; gar nicht rehfüßig übrigens; die Tür
klappte, und sie trat ein.
Sie hatte sichtlich geschlafen, das Haar war nicht so glatt und ordentlich aufgesteckt wie sonst,
und ihr helles Kleid hatte etwas Zerdrücktes, Unordentliches. Sie stand da einen Augenblick und
sah zu mir herüber. Sie erkannte mich nicht gleich, sie mußte gegen die Sonne blicken. Dann rief
sie ganz vergnügt: »Ach, das ist ja nur das Väterchen, das so gerne Schnaps trinkt!« rief's und
lief schon wieder die Treppe hinauf. Ich nahm ihr die neuerlichen, für meinen Durst eigentlich
schmerzlichen Worte gar nicht übel. War ich doch nur froh über diesen unbefangenen Empfang. Ein
bißchen hatte ich mich doch gefragt, wie sie mich nach meinem Abgang über das Schuppendach in
jener Nacht aufnehmen würde. Nun aber war alles gut, und ich wartete mit Geduld die fünf Minuten,
bis sie, nunmehr geschniegelt und glatt, wieder auftauchte. Sie kam gleich an meinen Tisch, bot
mir wie einem alten Freund die Hand und sagte freundlich: »Ich dachte schon, Sie wollten gar
nicht mehr wiederkommen! Was haben Sie denn so lange gemacht? Sind Sie nun schon ganz
bankrott?«
»Noch nicht, ma reine«, sagte ich, auch lächelnd. »Vorläufig habe ich erst einmal das Geschäft
meiner Frau übertragen, mit der ich übrigens in Scheidung liege. Was meinst du dazu, meine
Hübsche? In acht Wochen bin ich vielleicht schon zu haben! Noch ganz gut erhalten, wie?«
Sie sah mich einen Augenblick an, dann verschwand das Lächeln von ihrem Gesicht, und sie sagte
ganz kühl und geschäftsmäßig: »Einen Korn, nicht wahr? Oder gleich wieder eine ganze Flasche,
wie?«
»Richtig, meine Goldene!« rief ich. »Gleich wieder eine ganze Flasche! Und für dich wiederum eine
Flasche Sekt!«
»Nicht am Tage«, antwortete sie kurz und ging.
1 comment