Ich sagte mir alle Gedichte, die ich
aus meiner Schulzeit noch auswendig wußte, immer wieder her und ertappte mich doch dabei, daß ich
zwischen zwei Versen mit Magda sprach oder überlegte, welchen Handkoffer ich als den
zweckmäßigsten wählen sollte.
Schließlich, nach fast dreiviertelstündigem Marsch, war ich vor der Gartenpforte meiner Villa
angelangt. Vor kurzem hatte es von den drei Kirchtürmen der Stadt ein Uhr geschlagen. Ich zog die
Pforte leise hinter mir zu und ging, unter Vermeidung der bekiesten Wege, über das Gras um mein
Haus herum. Es lag alles still und dunkel. Lange stand ich unter Magdas Schlafzimmerfenster und
meinte, ihren ruhigen Atem zu hören; es war aber nur mein eigenes Herz, das unruhig und laut in
der eigenen Brust pochte. Als ich darüber nachdachte, daß ich hier bei meinem eigenen Haus, fünf
Meter von meiner eigenen Frau als ein mittelloser Fremdling in der Nacht stand, seit einer Woche
nicht mehr gewaschen und rasiert, da überkam mich ein solches Mitleid mit mir selbst, daß ich in
bittere Tränen ausbrach. Ich weinte lange und schmerzlich, am liebsten wäre ich zu Magda ins
Zimmer gedrungen und hätte mich von ihr trösten lassen.
Schließlich erwies sich aber auch hier der Schnaps als der beste Tröster; ich trank lange und
sehr viel. Mein Schmerz beruhigte sich. Ich kämpfte eine Neigung, erst eine Weile zu schlafen,
nieder und ging zurück an die Vorderseite des Hauses.
Ich stehe in Strümpfen auf der Diele meines Hauses, die Schuhe habe ich schon im Vorplatz
gelassen. Es ist noch dunkel, aber nun tastet meine Hand nach dem Schalter, ein leises Knacken,
und es wird hell. Ja, hier bin ich wieder bei mir zu Hause, hier gehöre ich her, in diese Ordnung
und Sauberkeit! Mit einer fast andächtigen Scheu betrachte ich diese kleine schmucke Diele mit
dem resedafarbenen Teppich, von dem längst die häßlichen Spuren jener düsteren Nacht getilgt
sind; ich sehe den Kleiderständer an, an dem ordentlich auf Bügeln nebeneinander Magdas grüne
Kostümjacke und ein bläulicher Sommermantel hängen - und nun schleiche ich mich zum Spiegel, zu
dem großen, langen Spiegel, in dem man sich von oben bis unten sehen kann, und ich betrachte mich
von oben bis unten. Und ein fürchterlicher Schrecken packt mich, wie ich mich da stehen sehe in
meinen ausgebeulten, beschmutzten Kleidern, mit dem grauschwarzen Halskragen, dem stoppligen
fahlen Gesicht, den rotgeränderten Augen.
Das ist aus mir geworden! schreit es in mir, und mein erster Impuls ist es,
hinüberzustürzen zu Magda, vor ihr auf die Knie zu fallen und sie anzuflehen: Rette mich!
Rette mich vor mir selbst! Birg mich an deinem Herzen! Aber diese Regung verfliegt; ich
lächle mein Spiegelbild listigverschlagen an.
Das möchte sie, denke ich. Und dann ab mit dem Mann in eine Trinkerheilanstalt und rein
in Geschäft und Vermögen!
Listig sein. Immer listig sein. Und ich rücke mir eilig einen Stuhl an den großen Kleiderschrank
in der Diele, ich lange hinauf und hole mir einen Handkoffer herunter, den besten Handkoffer, den
wir besitzen, einen vollrindledernen; eigentlich gehört er sogar Magda, ich habe ihn ihr einmal
zum Geburtstag geschenkt. Aber darauf kommt es jetzt nicht an, außerdem - gehört nicht Eheleuten
alles gemeinsam? In der nächsten Viertelstunde entfalte ich eine fieberhafte Tätigkeit, ich packe
meinen Mantel ein, zwei Anzüge, Wäsche. Aus dem Badezimmer hole ich mein Toilettenzeug. Magda
wird sich morgen früh wundern! Aus dem Schuhschrank hole ich zwei Paar Schuhe, Hausschuhe - ich
richte alles wie zu einer großen Reise. Und jetzt ist mir wirklich so, als würde ich eine große
Reise antreten, vielleicht, vielleicht ist Elinor diesmal zugänglicher.
Nun bin ich mit all diesen Dingen fertig, und ehe ich jetzt an das Schwerste gehe, setze ich mich
einen Augenblick auf die Diele, trinke und ruhe mich aus. Ich merke doch sehr, wie schwach ich in
den letzten Wochen geworden bin, dies bißchen Packen hat mich über Gebühr angestrengt, mein Herz
flattert, ich bin von Schweiß bedeckt.
Dann mache ich mich wieder ans Werk. Bis jetzt ist alles ausgezeichnet gegangen, ich habe kein
Geräusch gemacht, das einen normalen Schläfer erwecken könnte, nichts fiel mir aus den Händen.
Aber, wie gesagt, das Schwerste steht mir noch bevor. Ich ziehe die Schieblade unter dem Spiegel
auf, und siehe, da liegt wirklich die elektrische Taschenlampe! Ich knipse, und siehe, sie brennt
tatsächlich! Es geht doch nichts über einen gutgeordneten Haushalt - heil dir, Magda! Ich knipse
alles Licht aus und schleiche mit der Taschenlampe in unser Wohnzimmer. Es liegt direkt neben dem
Schlafzimmer und ist von ihm nur durch eine zweiflüglige, mit bunten Glasscheiben verzierte Tür
getrennt, durch die jeder Lichtschein und jedes Geräusch dringen. Im Dunkeln taste ich mich zum
Schreibtisch hin, in dessen Mittelfach in einer kleinen Geldkassette unser Bargeld liegt. Im
allgemeinen ist dort nur das für den Haushalt notwendige Geld, also nur wenig; haben wir abends
aber noch Einnahmen im Geschäft gehabt, die zur Bank zu bringen es zu spät war, so nahmen wir das
Geld mit hierher. Ich war doch sehr gespannt, wieviel ich finden würde. Es gelang mir, das Fach
ohne jedes Geräusch zu öffnen und die Kassette herauszuholen; ich brauchte nicht einmal die
Taschenlampe anzuknipsen. Ebenso fand ich im völlig Dunklen das neben der Kassette liegende
Scheckbuch. Ich schob es in die Tasche und trug die Kassette behutsam Schritt für Schritt in die
Diele, setzte sie erst ab, schloß die Tür und knipste das Licht an. Es klingt seltsam, aber ich
habe so etwas wie ein Gebet verrichtet, ehe ich die Kassette aufschloß.
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