Von da an war es
nur ein kleiner Schritt bis dahin, wo ich sie bewußt zu verletzen suchte.
In jenem äußerst kritischen Zeitpunkt unserer Beziehungen waren die Lebensmittellieferungen für
die Gefängnisverwaltung wie alle drei Jahre neu ausgeschrieben. Wir haben in unserem Ort (gerade
nicht zum Entzücken seiner Einwohner) das Zentralgefängnis der Provinz liegen, das ständig etwa
fünfzehnhundert Häftlinge in seinen Mauern birgt. Seit neun Jahren hatten wir diese Lieferungen
schon, Magda hatte sich seinerzeit sehr darum bemüht, sie zu erhalten. Bei den beiden späteren
Vergebungen hatte sie immer nur einen kurzen Höflichkeitsbesuch bei dem entscheidenden
Oberinspektor der Verwaltung gemacht, und der Zuschlag war uns ohne weiteres zugefallen. Ich sah
diese Lieferung für einen so selbstverständlichen Teil meines Geschäftes an, daß ich auch diesmal
nicht weiter Aufhebens von der Sache machte: ich ließ das alte Angebot, dessen Preisgestaltung
sich nun schon seit neun Jahren bewährt hatte, abschreiben und einreichen. Ich überlegte auch
einen Besuch bei dem entscheidenden Oberinspektor, aber alles lief ja in seinen eingelaufenen
Bahnen; ich wollte nicht aufdringlich erscheinen, ich wußte, der Mann war mit Arbeit überlastet -
kurz, ich hatte mindestens zehn gute Gründe, den Besuch zu unterlassen.
Danach traf es mich wie ein Blitz aus heiterem Himmel, als mich ein Schreiben der
Gefängnisverwaltung mit wenigen dürren Worten dahin unterrichtete, daß mein Angebot abgelehnt und
daß die Lieferungen einer anderen Firma zugeschlagen worden seien. Mein erster Gedanke war der:
daß nur Magda nichts davon erfährt! Dann nahm ich meinen Hut und eilte zu dem Oberinspektor,
jetzt den Besuch zu machen, der drei Wochen früher sinnvoll gewesen wäre. Ich wurde höflich, aber
kühl aufgenommen. Der Oberinspektor bedauerte, daß die alte Geschäftsverbindung nun unterbrochen
sei. Er habe aber gar nicht anders handeln können, da ein Teil der von mir genannten Preise
längst überholt gewesen sei, mal nach der höheren, mal nach der niedrigeren Seite hin. Im ganzen
gleiche es sich wohl etwa aus, aber mein Angebot habe nun eben auf die maßgebenden Herren - ich
möge seine Offenheit verzeihen - einfach einen schlechten Eindruck gemacht, als sei es meiner
Firma ganz gleichgültig, ob sie den Zuschlag erhalte oder nicht. Ich erfuhr weiter, daß eine ganz
junge, mit allen Mitteln aufstrebende Firma, die mir schon einige Male Ärger bereitet hatte, auch
dieses Mal wieder als Sieger aus dem Rennen hervorgegangen war. Zum Schluß drückte der
Oberinspektor noch in aller Höflichkeit die Hoffnung aus, in drei Jahren wieder mit meiner Firma
in die alte Verbindung treten zu können, und ich war entlassen -!
Ich wußte, ich hatte mir in dem Gefängnisbüro nichts von meiner Bestürzung, ja, meiner
Verzweiflung über diesen Fehlschlag anmerken lassen; ich hatte meine Erkundigung halb mit
Höflichkeit, halb mit Neugier nach dem Namen des glücklichen Gewinners frisiert. Als ich aber
wieder draußen vor den schweren Eisentoren des Gefängnisses stand, als der letzte Riegel rasselnd
hinter mir zugeschoben war, sah ich in den hellen Sonnenschein dieses wunderbaren Frühlingstages
wie jemand, der soeben aus einem schweren Traum erwacht ist und noch nicht weiß, ob er nun
wirklich wach ist oder ob er noch immer unter dem Alpdruck des Traumes seufzt. Ich seufzte noch
unter ihm, umsonst hatte das eiserne Gittertor mich zur Freiheit entlassen, ich blieb gefangen in
meinen Sorgen und Mißerfolgen.
Es war mir jetzt unmöglich, in die Stadt und auf mein Kontor zu gehen, vor allem aber mußte ich
mich erst sammeln, ehe ich vor Magda trat - ich ging fort von der Stadt und den Menschen, ich
ging in die Felder und Wiesen hinaus, immer weiter fort, als könnte ich mir und meinen Sorgen
entlaufen. Ich habe aber an diesem Tage nichts von dem frischen Smaragdgrün der jungen Saaten
gesehen, ich habe nicht das eilige Glucksen der Bäche und die Trommelwirbel der Lerchen in der
blaugoldenen Luft gehört: ich war grenzenlos allein mit mir und meinem Mißgeschick. Mein Herz war
so übervoll davon, daß nichts anderes mehr hineinkonnte.
Ich war mir ganz klar darüber, daß dies für mein Geschäft nicht mehr ein kleiner Fehlschlag war,
der mit einem achselzuckenden Bedauern hingenommen werden konnte: die Lieferung der
Nahrungsmittel für fünfzehnhundert Menschen war selbst bei bescheidenem Nutzen ein so
wesentlicher Teil meines Umsatzes, daß sie nicht ohne einschneidende Veränderungen meines ganzen
Betriebes hingenommen werden konnte. An einen Ersatz für diesen Ausfall war bei dem Mangel
ähnlicher Gelegenheiten in unserer bescheidenen Provinzstadt nicht zu denken. Äußerste Tatkraft
hätte die Zahl der Einzelgeschäfte um einige Dutzend steigern können, aber ganz abgesehen davon,
daß dies noch lange keinen Ersatz für den Ausfall bedeutete, fühlte ich mich gerade jetzt zu
dieser äußersten Tatkraft ganz unfähig. Aus irgendwelchen Gründen war ich schon seit fast einem
Jahr unfrisch. Immer mehr neigte ich dazu, den Dingen ihren Lauf zu lassen und mich nicht zu sehr
zu erregen. Ich war ruhebedürftig - warum weiß ich nicht. Vielleicht wurde ich früh alt. Es war
mir klar, daß ich mindestens zwei Angestellte würde entlassen müssen, aber auch das berührte mich
nicht einmal so sehr, obwohl ich wußte, wie sehr darüber geschwätzt werden würde. Nicht das
Geschäft bekümmerte mich im Augenblick, sondern Magda. Immer wieder war mein Hauptgedanke, meine
Hauptsorge: daß bloß Magda nichts davon erfährt! Wohl sagte ich mir, daß ich auf die Dauer die
Entlassung von zwei Angestellten und den Verlust der Lieferungen überhaupt nicht vor ihr
verbergen konnte. Aber ich log mir vor, daß alles darauf ankomme, daß sie nicht gerade jetzt
davon erführe, daß ich in einigen Wochen vielleicht doch den einen oder anderen Ersatz gefunden
haben könnte. Dann hatte ich wieder einen hellen Augenblick. Ich blieb stehen, stieß mit dem Fuß
energisch gegen einen Stein im Staube des Weges und sagte zu mir: Da Magda doch davon erfahren
wird, ist es besser, sie erfährt es durch mich als durch anderer Leute Mund, und es ist wiederum
besser, sie erfährt es heute, als irgendwann. Mit jedem Tag, den du dies aufschiebst, wird das
Geständnis schwerer.
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