Was sollte ich auf
dem Büro, was in meinem Heim?
Die Vorwürfe noch aufsuchen, die mir notwendig gemacht werden mußten, eine Rechtfertigung
versuchen, dort, wo nichts zu rechtfertigen war? Nichts von alledem - und, indem ich wieder in
das langsam immer dunkler werdende Land hinauswanderte, wurde mir mit schmerzhafter Gewißheit
klar, daß ich ausgespielt hatte. Ich hatte, endgültig, meine Stellung und meinen Sinn im Leben
verloren, und ich fühlte nicht die Kraft in mir, eine neue zu suchen oder gar um die verlorene zu
kämpfen. Was sollte ich noch? Wozu lebte ich noch? Da ging ich dahin, wanderte fort von Kontor,
Frau, Vaterstadt, ließ das alles hinter mir - aber ich mußte doch einmal wieder heimkehren, nicht
wahr? Ich mußte mich Magda gegenüberstellen, ihre Vorwürfe anhören, mich mit Recht Lügner und
Betrüger schelten lassen, mußte zugeben, daß ich versagt hatte, auf eine schmähliche und feige
Art versagt! Unerträglich war dieser Gedanke, und ich fing an, mit dem Gedanken zu spielen, gar
nicht wieder heimzukehren, in die weite Welt hinauszugehen, irgendwo im Dunkel unterzutauchen, in
einem Dunkel, in dem man auch untergehen konnte - ohne Nachricht, ohne letzten Ruf. Und während
ich mir das alles - in leichter Rührung über mich selbst - ausmalte, wußte ich doch, daß ich mir
etwas vorlog, nie würde ich den Mut haben, ohne Zureden, ohne die Geborgenheit des heimischen
Herdes zu leben. Nie würde ich auf das gewohnte weiche Bett verzichten können, die Ordnung des
Heims, die pünktlichen nahrhaften Mahlzeiten! Ich würde heimkehren zu Magda, all meinen Ängsten
zum Trotz, diese Nacht noch würde ich heimkehren, in mein gewohntes Bett - nichts da von einem
Leben draußen im Dunkel, von einem Leben und einem Sterben in der Gosse! - Aber, sagte ich
mir dann wieder und beschleunigte meine eiligen Schritte noch, aber was ist denn eigentlich
los mit mir? Ich bin doch früher ein leidlich tatkräftiger und unternehmungslustiger Mensch
gewesen. Ein wenig schwach war ich stets, aber das habe ich so gut zu verbergen gewußt, daß es
bis heute wohl nicht einmal Magda gemerkt hat; woher kommt die Schlaffheit, die mich seit einem
Jahr immer stärker befällt, die mir Glieder und Hirn lähmt, die aus mir, einem immer leidlich
anständigen Menschen, einen Betrüger an seiner Frau macht, der den Busen seines Hausmädchens mit
befriedigter Lüsternheit betrachtet! Der Alkohol kann es nicht sein, ich trinke ja erst seit
heute Schnaps, und die Schlaffheit liegt schon so lange über mir. Was ist es nur? - Ich riet
hin und her. Ich dachte daran, daß ich soeben die Vierzig überschritten hatte; ich hatte einmal
etwas von den Wechseljahren des Mannes reden hören - aber ich wußte von keinem Mann meiner
Bekanntschaft, der beim Überschreiten der Vierzig sich so verändert hatte wie ich mich. Dann fiel
mir mein liebloses Dasein ein. Ich hatte immer nach Anerkennung und Liebe gedürstet, in aller
gebotenen Heimlichkeit natürlich, und ich hatte sie in einem reichen Maße gefunden, sowohl bei
Magda wie bei meinen Mitbürgern. Und nun hatte ich sie allmählich verloren. Ich wußte selbst
nicht, wie das alles gekommen war. Hatte ich diese Liebe und diese Anerkennung verloren, weil ich
schlecht geworden war, oder war ich schlecht geworden, weil mir diese Aufmunterungen gefehlt
hatten? Ich fand auf alle diese Fragen keine Antwort: ich war es nicht gewöhnt, über mich
nachzudenken. Ich ging immer schneller, ich wollte endlich dorthin kommen, wo es Frieden vor
diesen quälenden Fragen gab. Endlich stand ich wieder vor meinem Ziel, vor demselben
Dorfgasthaus, das ich an diesem verhängnisvollen Vormittag aufgesucht hatte; ich sah durch die
Fenster der Wirtsstube nach jenem Mädchen mit den blassen Augen aus, das mein Mannestum nach
einem schamlosen Blick so gering eingeschätzt hatte. Ich sah es sitzen unter dem trüben Schein
einer einzigen kleinen Glühbirne, mit irgendeiner Näherei beschäftigt, ich sah es lange an, ich
zögerte, und ich fragte mich, warum ich gerade es aufgesucht hatte, in einem Gefühl schmerzender,
wollusterfüllter Selbsterniedrigung. Und auch auf diese Frage fand ich keine Antwort.
Aber ich war all dieses Fragens müde, ich lief fast den Plattenweg zum Gasthof hinauf, tastete im
dunklen Flur nach der Klinke, trat rasch ein, rief mit verstellter Munterkeit: »Da bin ich, mein
schönes Kind!« und warf mich in einen Korbsessel neben sie. All das, was ich eben getan hatte,
glich so wenig dem, was ich sonst zu tun pflegte, wich so sehr von meiner früheren Gesetztheit,
meinem gemessenen Benehmen ab, daß ich mir selbst mit einem unverhohlenen Staunen zuschaute, ja,
mit einer fast ängstlichen Betretenheit, wie man viel eicht einem Schauspieler zuschaut, der eine
sehr gewagte Rolle übernommen hat, von der ganz und gar nicht sicher ist, daß er sie auch
überzeugend zu Ende spielen kann.
Das Mädchen sah von seiner Näherei auf, einen Augenblick waren die hellen Augen auf mich
gerichtet, die Spitze ihrer Zunge erschien rasch im Mundwinkel. »Ach, Sie sind es!« sagte es dann
bloß, und in diesen vier Wörtchen lag wiederum ihr Urteil über meine Person.
»Ja, ich bin es, meine Holde!« sagte ich eilig mit jener mir so fremden Zungengeläufigkeit und
Anmaßung. »Und ich möchte gerne wieder eins oder zwei oder auch fünf Ihrer so vorzüglichen
Stängchen trinken, und wenn Sie es mögen, trinken Sie mit mir.«
»Ich trinke nie Schnaps«, sagte das Mädchen mit kühler Abwehr, stand aber auf, ging an die Theke,
holte ein kleines Glas und eine Flasche und schenkte mir am Tisch ein. Sie setzte sich und
stellte die Flasche auf den Boden neben sich.
»Übrigens«, sagte sie dann, ihre Näherei wieder aufnehmend, »schließen wir in einer
Viertelstunde.«
»Um so schneller werde ich trinken«, sagte ich, setzte das Glas an und trank es aus. »Wenn Sie
aber keinen Schnaps trinken«, fuhr ich fort, »so will ich auch gerne eine Flasche Wein oder auch
Sekt, wenn es so etwas hier gibt, für Sie bezahlen. Es soll mir nicht darauf ankommen.«
Sie hatte unterdes mein Glas wieder gefüllt, und wieder leerte ich es auf einen Zug. Schon hatte
ich alles Vergangene und vor mir Liegende vergessen, ich lebte nur dieser Minute, diesem spröden
und doch wissenden Mädchen, das mich mit so offenkundiger Verachtung behandelte. »Sekt haben wir
schon«, sagte sie, »und ich trinke ihn auch gerne. Ich mache Sie aber darauf aufmerksam, daß ich
mich weder betrinken werde, noch wegen einer Flasche Sekt ins Bett bringen lasse.«
Jetzt sah sie mich wieder an, mit einem vollen schamlosen Blick begleitete sie ihre schamlosen
Worte. Ich mußte meine Rolle weiterspielen: »Wer denkt an so etwas, meine Hübsche?« rief ich
unbekümmert. »Holen Sie sich Ihren Sekt. Sie sollen ihn unbelästigt in meiner Gegenwart
austrinken dürfen. Sie sind«, sagte ich stärker, nachdem ich wieder getrunken hatte, »für mich
wie ein Engel von einem anderen Stern, ein böser Engel, den mir mein Schicksal in den Weg gesandt
hat.
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