Mit leicht vorgestrecktem Kopfe horchte er nach dem Dunkel der russischen Gräben hinüber, über denen die wachsamen Leuchtkugeln stiegen und sanken. Hinter den schwarzen Holzhütten von Obuchowizna glomm die rote Glut eines Torfbrandes, und schwarzer Ruß flockte in Wolken über den fackelhellen Himmel. Wir sprachen, ins Dunkel der Riesenfichte geschmiegt, von den Kämpfen, denen wir entgegengingen. »Einen echten und rechten Sturmangriff zu erleben,« sagte der junge Leutnant neben mir, »das muß schön sein. Man erlebt vielleicht nur einen. Es muß doch schön sein.« Und schwieg wieder und blickte auf den breiten Stahl in seinen Händen nieder. Mit einmal legte er mir den Arm um die Schulter und rückte das helle Schwert vor meine Augen: »Das ist schön, mein Freund! Ja?« Etwas wie Ungeduld und Hunger riß an den Worten, und ich fühlte, wie sein heißes Herz den großen Kämpfen entgegenhoffte. Lange noch stand er so, ohne sich zu rühren, mit leicht geöffneten Lippen im heller werdenden Mondlicht, das über die breite Klinge in seinen hellen Händen floß, und schien auf etwas Fremdartiges, Großes und Feindseliges zu lauschen, das im Dunkel verhohlen war. Wie er so wach und durstig in eine nahe, waffenklirrende Zukunft hineinhorchte, schien er mir wie das lebendig gewordene Bild des jungen Knappen, der in der Nacht vor der Schwertleite ritterliche Wacht vor seinen Waffen hält.
An diese seltsame, dunkle Stunde wurde ich erinnert, als ich vor Weihnachten die Mutter des gefallenen Freundes in seiner Heimat besuchte. Nach einer Weile des Schweigens fragte sie mich leise: »Hat Ernst vor seinem Tode einen Sturmangriff mitgemacht?« Ich nickte mit dem Kopfe. »Ja, bei Warthi.« Da schloß sie die Augen und lehnte sich im Stuhle zurück. »Das war sein großer Wunsch,« sagte sie langsam, als freue sie sich im Schmerze einer Erfüllung, um die sie lange gebangt hatte. Eine Mutter muß wohl um den tiefsten Wunsch ihres Kindes wissen. Und das muß ein tiefer Wunsch sein, um dessen Erfüllung sie noch nach seinem Tode bangt. Oh, ihr Mütter, ihr deutschen Mütter! –
Wißt ihr nun, ihr, die ihr diesen Tag nacherlebt habt, von dem ich redete, wißt ihr nun, was es heißt, Wandrer sein zwischen beiden Welten? ...
In den letzten Tagen des Juli löste uns ein Landwehrregiment in den Gräben vor Augustowo ab. Mit übermütig vollen Herzen lasen wir den Ablösungsbefehl. Wenn auch das Marschziel geheim gehalten wurde, so wußten wir doch, es ging ins Gefecht, es wurde Ernst. Aber wir wollten nicht klanglos aus den liebgewordenen Wäldern marschieren. Auf einer ausgelassenen Abschiedspatrouille sagten wir nächtlicherweile den russischen Muschiks Lebewohl, mit denen wir so lange feindnachbarlich zusammen gehaust hatten. Mit roten und blauen Papierlaternen aus unsern Unterständen und langen Hakenstangen schlichen wir im Dunkel über den Kolnobach und krochen an die feindlichen Verhaue an. Dort schafften wir uns mit den flinken Handspaten im lockern Sande eine Kugeldeckung, hingen die bunten Lampen an die Stangenhaken und zündeten sie in tiefen Wühllöchern gleichzeitig an. Auf ein leises Kommando schwebten die hellen Laternen, rot und blau aufleuchtend, über den russischen Verhauen empor und standen dort festlich und feierlich still. Zugleich erhob sich, von einem Dutzend frischer Stimmen gesungen, die Wacht am Rhein und schwoll über die Russengräben hin. Die aus dem feindlichen Dunkel knatternden Salven taten den Sängern hinter ihren guten Sandhaufen wenig, nur daß hie und da einer lachend den Sand aus den Zähnen spuckte, den die über die Deckung streifenden Kugeln in den offenen Mund peitschten. Die blaue Lampe erlosch und fiel, von ein paar Kugeln zerfetzt, von der Stange. Aber die roten Laternen hielten sich um so wackerer, nur daß sie eben ein paarmal im Kugelwind schwankten und flackerten. Mählich wurde, während Gesang und Gelächter unbekümmert fortklangen, der ganze Russenwald rebellisch, aber je wütender aus den Gräben geschossen wurde, desto sicherer wußten wir, daß keine stärkere Patrouille gegen uns vorging, um den nächtlichen Unfug an den Stacheldrähten zu bestrafen. Leuchtkugeln flogen steilauf, hielten sich ein Weilchen flackernd in schwebender Helle, sanken nieder und erloschen blakend neben uns im Sande; sie wurden mit Hallo als Bereicherung des nächtlichen Feuerwerks begrüßt. Allmählich ließ das Schießen nach, und es war wohl an der Zeit, die kleine Patrouille zurückzunehmen, ehe sie von stärkeren russischen Kräften ausgehoben würde. Denn Verluste durfte der nächtliche Unfug nun einmal nicht kosten.
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