Aber kaum wollte ich den Befehl zum Rückzug geben, da wälzte sich ein junger Kriegsfreiwilliger im Sande blitzschnell mit dem Gesicht nach mir herum und bettelte: »Herr Leutnant – Musketier sein's lust'ge Brüder!« Und eh' ich noch antworten konnte, fielen zehn Stimmen und mehr, sich vor übermut überschlagend, in den Text des braven Soldatenlieds ein. Dagegen war nichts zu machen. Ich fügte mich und beschränkte mich darauf, die Augen wachsam spazieren zu lassen, während die guten Kerls Vers um Vers heruntertobten. Das neu einsetzende russische Feuer beruhigte mich zudem; die Russen schienen keine Lust zu haben, der frechen Gesellschaft, die ihnen vor der Nase lärmte, handgreiflich auf den Pelz zu rücken. Das längste Lied nimmt einmal ein Ende, auch ein Soldatenlied. Aber meine Hoffnung erwies sich als trügerisch, denn nach dem »lustigen Musketier« schien meinen grauen Jungs das Lied von der »finsteren Mitternacht« als unabweisliches Bedürfnis. »Herr Leutnant – Steh' ich in finstrer Mitternacht! –?« Mochte vernünftig sein, wer wollte angesichts solcher Schuljungenlustigkeit nach zwölf Kriegsmonaten! Ich blieb bäuchlings im Sande liegen und lachte, während meine Kerls immer wütender sangen und Sand spuckten. Zwei rote Papierlaternen hielten sich unvergleichlich trotz alles Flackerns und Baumelns. Aber alles muß einmal ein Ende nehmen, und so setzte ich allen weiteren Programmvorschlägen ein eisernes Nein entgegen und ließ die Leute einzeln bis zur nächsten Wiesenschlenke zurückkriechen, wo wir uns in Deckung sammeln konnten. Nach weitern hundert Metern sprangen wir auf und machten, daß wir über den Bach zurückkamen. Gottlob, es bekam keiner etwas ab trotz der Abschiedsgrüße, die fleißig hinter uns dreinpfiffen. In unseren Gräben mußten wir noch einmal über das sorgenvolle Gesicht des Kompanieführers lachen, der bereits dem Unterabschnittskommandeur telephonisch das Auftauchen roter Signallichter in der russischen Stellung gemeldet hatte und nun etwas verdutzt unsere Patrouillenmeldung entgegennahm. Viel Zweck hatte der übermütige Streich nicht, aber es war doch ein hübsches Zeichen für den Geist, mit dem unsre Leute nach wochenlangem Stilliegen in den Bewegungskrieg gingen.
Andern Tags erwarteten wir die Ablösung. Noch einmal streiften wir zu zweit, den Mückenschleier unter der Feldmütze, durch den würzigen Harzduft und schweren Torfgeruch der Sumpfwälder und schlenderten bis zu den Nettawiesen. Am Waldrand im heißen Sand gelagert, hörten wir die Schnaken singen und die Spechte hämmern. Das keifende Geschwätz der Eichelhäher lärmte uns zu Häupten, und die schillernden Blauspiegel ihrer Flügel leuchteten blank zwischen den sonnenroten Stämmen auf, wie sie in ungeschicktem Schlingerflug von Lichtung zu Lichtung herauf- und hinunterstoben. Die papageienbunten Mandelkrähen schwangen sich über das dunkle Grün der Fichten und ließen die Sonne in ihrem farbigen Gefieder aufblenden. Fern hinter dem breiten Stahlschilde des Sajno-Sees verdämmerten im Sonnendunst des Horizonts violette Zichorienfelder und die weißen Teppiche üppig blühender Margaretenwiesen. Die blaue Netta gluckte leise aus prangendem Grün und buntem Schaumkraut herüber.
Am Spätabend rauschte und klirrte der Marsch der ablösenden Landwehrkompanie durch den stillgewordenen Wald. Mit den Unterständen und Gräben zugleich übernahmen die Landwehrleute von unsern Musketieren das lebendige Erbe der zahmen Krähen und halbflüggen Blauraken. Gute Wünsche herüber und hinüber, dann rückte die Kompanie ab. Im Waldesdunkel intonierte die Kompaniekapelle, deren Instrumente zumeist sehr sinnreich aus Blechbüchsen und Telephondraht hergestellt waren, das »O Deutschland, hoch in Ehren!«, und Gruppe um Gruppe fielen die Mannschaften ein. Unter Lachen und Singen ging es der ungewissen Zukunft entgegen.
Die Nacht verbrachten wir auf Stroh in den Russenkasernen von Augustowo. In den nächsten Tagen ging's über Suwalki nach Kalvarja weiter. Auf diesen ersten Märschen, die den im monatelangen Stellungskrieg eingerosteten Knochen der Leute recht sauer wurden, erwies sich der junge Wandervogel als frischer Helfer. Ohne viel Ermahnen, Schelten und Antreiben wußte er durch ein rasches Scherzwort hier und dort einen niederhängenden Kopf zu heben, während er mit leichtem, festem Schritt an der marschierenden Kolonne herauf- und herunterging. Bot ihm einer der berittenen Offiziere während des Marsches ein Pferd an, so schlug er's aus; als Zugführer marschierte er mit seinen Leuten. Von einem Gaul herunter, der ihm nicht zustand, die müden Gruppen anzutreiben, das lag ihm nicht. Etwas Festes und Festliches war immer in seinem Gang, das jeden gern nach ihm hinschauen ließ. Unweit Kalvarja wurden die Marschkolonnen des Bataillons von der russischen Artilleriebeobachtung bemerkt, und über die auf kurze Strecke eingesehene Straße fegten krachend die Sprengladungen berstender Schrapnells.
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