Hart neben den ziehenden Kolonnen schleuderten einschlagende Granaten die schwarze Erde baumhoch empor und wühlten mächtige Trichter auf. Die Kompanien wichen dem Feuer in den Sumpfbruch rechts der Straße aus und zogen abseits außer Sicht im Wiesengrunde weiter den Türmen von Kalvarja entgegen. Noch sehe ich Ernst Wurche durch den Granatensegen von Kalvarja schreiten mit demselben geruhigen und aufrechten Gang, mit dem er die Steilhänge der Côtes Lorraines hinab, an ostpreußischen und polnischen Seen entlang und singend an der Spitze der zum Baden ziehenden Kompanie durch die Sonnenwälder von Augustowo gezogen war. Dieser Gang wurde um nichts hastiger. Das ruhige, feste, gleichsam befehlende Ausschreiten des jungen Leutnants geleitete die Kompanie in guter Ordnung durch die Feuerzone und verhinderte ein Auseinanderlaufen der Kolonnen in dem unbekannten und gefährdeten Gelände. Nach stundenlangem, erschöpfendem Marsch durch morastige Gründe und unwegsame Hänge bog die Kompanie wieder auf die große Straße ein. Neben dem triebhaften Vorwärtsziehen der müden grauen Masse klang der lebendige Schritt des jungen Führers über das Steinpflaster von Kalvarja.

Zwischen Kalvarja und Mariampol bezog das Regiment noch einmal feste Stellung, die von preußischer Landwehr ausgebaut war. Ein abscheulicher Fäulnisgeruch lag über den Lehmgräben, in denen trübes Grundwasser immer in tiefen Lachen und Pfützen stand. Unter dem Bodenbelag der Unterstände mußte das nachsickernde Wasser immer aufs neue ausgeschöpft werden. Jenseits der Brustwehr lag der ausgeworfene Schlamm in breiten, zähen Bächen. An der Luft und unter der Erde wimmelte es von Ungeziefer. Das Fliegengeschmeiß sammelte sich um jeden eßbaren Bissen in schwarzen Klumpen, und aus dem Deckbalkengefüge der Unterstände warfen uns die unermüdlich wuselnden Mäuse den trocknen Lehm auf Köpfe und Teller. Ernst Wurche, der in diesen Tagen seinen dritten Zug an einen Kameraden mit älterem Patent abgeben mußte, teilte mit mir ein enges Erdloch, in dem wir gerade auf zwei etagenförmig übereinander gebauten Pritschen schlafen konnten. Gegen die Mäuse eröffneten wir, wenn es zu toll wurde, mit unsern Pistolen von beiden Pritschen her nächtliche Feuerüberfälle, die sich mitunter zu wütendem Trommelfeuer steigerten. Wenn dann unsre Taschenlampen als Scheinwerfer über den Kampfplatz spielten, beleuchteten sie ein wüstes Trümmerfeld von Holzsplittern und Lehmbrocken, unter denen sich einmal sogar eine Mäuseleiche begraben fand. Die Höhlenluft, in der wir schliefen, wurde durch den Pulverschwaden, der das nächtliche Schlachtfeld deckte, weder besser noch schlechter. Im übrigen mieden wir nach Möglichkeit den Aufenthalt in dem unappetitlichen Loche, in dem wir uns trotz der von Wurche besorgten pomphaften Türinschrift »Stabsquartier des 2. Zuges« nicht heimisch fühlten. Bei Nacht wanderten wir durch den Graben und die Horchpostenlinie oder pirschten uns auf Patrouille an die russische Feldwache heran. Bei Tage nützten wir jedes Stündlein Sonne zum Faulenzen und Plaudern auf einer kärglichen Feldblumenwiese hinter den Gräben. Die flache Wiese war der einzige saubere Fleck, der uns in dem armseligen Lande, das sich um die »Leidensstadt« Kalvarja dehnt, erreichbar war. Aber sie hatte den Nachteil, daß man sie nur »liegend« bewohnen konnte. Vermaß man sich, aufrecht darauf zu wandeln, so pfiffen einem vom Russengraben her die Salven um die Ohren. Aber es war doch schön, sich auf dem blühenden Fleckchen zu strecken, die Hände unterm Kopf zu verschränken und in den blauen, sonnenheißen Himmel hinaufzusehen. Auf dieser Wiese haben der Freund und ich unsre letzten Plauderstündchen gehalten, zum letzten Male habe ich mich hier seines gedankenhurtigen und bildkräftigen Plauderns freuen dürfen ... Goethes Lieder ließen uns die Armseligkeit der Umgebung vergessen, und oft rief uns erst der Kugelsegen, der uns beim Aufstehen begrüßte, wieder in die Wirklichkeit zurück.

In der ersten Frühe des 19. August hatte ich den Freund eben im Nachtdienst abgelöst, als ich vom Kompanieführer den Befehl erhielt, mit einer Patrouille die Stärke der feindlichen Grabenbesatzung nach Möglichkeit zu erkunden. Die Kämpfe um Kowno machten die Stellung des Gegners mit jedem Tage unhaltbarer, und es lag alle Ursache vor aufzupassen, ob er nicht einmal freiwillig bei Nacht und Nebel die Gräben räumte, um sich weiter rückwärts in günstigerer Lage aufs neue festzusetzen.

Mit einer Patrouille von zwei Gruppen fühlte ich vor. Es war schon fast heller Tag, und zunächst glaubte ich nicht, daß wir weit kommen würden. Denn gleich als wir uns über die Ausfallrampe der Brustwehr schwangen, pfiffen uns von drüben ein paar Kugeln um die Ohren, die uns bewiesen, daß noch Leben in dem Russengraben war, und zudem mußten wir fast den ganzen Weg in voller Sicht des Feindes zurücklegen.