Der einzige, der, soviel ich weiß, es je tat, war ein kleiner schwarzhaariger Cockney mit einer spitzen Nase, Vertreter einer Zigarettenfirma. Er war noch nie im Norden gewesen, und ich vermute, daß er bis vor kurzem eine bessere Anstellung gehabt und in Hotels für Handelsreisende gewohnt hatte. Dies war sein erster Eindruck von einer richtigen Unterschicht-Absteige, der Art Unterkunft, in der die Vertreter von der ärmeren Sorte und Anreißer auf ihren endlosen Reisen übernachten müssen. Am Morgen, als wir uns anzogen (er hatte natürlich im Doppelbett geschlafen), sah ich, wie er sich mit einer Art verwunderter Abscheu in dem trostlosen Raum umschaute. Unsere Blicke trafen sich, und er erriet plötzlich, daß ich ein Landsmann aus dem Süden war.

»Diese verdammten dreckigen Saukerle!« kam es ihm aus der Seele.

Dann packte er seinen Koffer, ging nach unten und sagte den Brookers mit großer Entschlossenheit, das sei nicht die Art Haus, die er gewohnt sei, und er reise unverzüglich ab. Die Brookers konnten das nie verstehen. Sie waren erstaunt und verletzt. So eine Undankbarkeit! Sie nach einer einzigen Nacht einfach so zu verlassen! Die Sache wurde wieder und wieder in allen Richtungen diskutiert und zum Vorrat an Verdruß gelegt.

An dem Tag, als ein voller Nachttopf unter dem Frühstückstisch stand, beschloß ich zu gehen. Der Ort begann mich zu bedrücken. Es war nicht nur der Schmutz, der Gestank, das minderwertige Essen, sondern das Gefühl sinnloser Verwahrlosung ohne Ausweg, das Gefühl, in eine unterirdische Welt geraten zu sein, in der die Menschen herumkribbeln wie Küchenschaben in einem ewigen Durcheinander schäbiger Arbeit und alltäglicher Sorgen. Man bekommt den Eindruck, sie seien gar keine wirklichen Menschen, sondern eine Art Gespenster, die ewig das gleiche nichtige Geschwätz herunterspulen. Zuletzt stieß mich Mrs. Brookers selbstmitleidiges Gerede – immer die gleichen Klagen, wieder und wieder, und immer in dem zitternden Gewinsel »es ist wirklich hart, jawohl« endend – noch mehr ab als ihre Gewohnheit, den Mund mit Zeitungspapierfetzen abzuwischen. Aber es hat keinen Zweck, einfach zu sagen, daß Leute wie die Brookers abstoßend sind, und zu versuchen, sie aus dem Gedächtnis zu verdrängen. Denn sie existieren zu Dutzenden und Abertausenden; sie sind eines der charakteristischen Nebenprodukte der modernen Welt. Wenn man die Zivilisation, die sie hervorgebracht hat, gutheißt, darf man sie nicht übersehen. Denn sie sind zumindest ein Teil dessen, was die Industrialisierung für uns getan hat. Kolumbus segelte über den Atlantik, die ersten Dampfmaschinen setzten sich ruckelnd in Bewegung, die britischen Truppen hielten den französischen Gewehren bei Waterloo stand, die einäugigen Schurken des neunzehnten Jahrhunderts lobten Gott und füllten ihre Taschen, und das alles führte eben zu labyrinthischen Slums und dunklen, nach hinten gelegenen Küchen mit ungesunden, schnell alternden Menschen, die herumkribbeln wie Küchenschaben. Es ist eine Art Pflicht, solche Orte hin und wieder zu sehen und zu riechen, besonders zu riechen, damit man nicht vergißt, daß es sie gibt; obwohl es vielleicht besser ist, nicht zu lange dort zu verweilen.

Der Zug trug mich fort, durch die abscheuliche Gegend von Schlackenbergen, Kaminen, Schrotthaufen, stinkigen Kanälen, Pfaden im Aschenschlamm, kreuz und quer von Holzschuhabdrücken gezeichnet. Es war März, aber es war entsetzlich kalt gewesen, und überall lagen Hügel schwärzlichen Schnees. Wir fuhren langsam durch die Außenquartiere der Stadt und kamen an Reihen um Reihen kleiner grauer Slum-Häuser vorbei, die im rechten Winkel zu den Aufschüttungen verliefen. Hinter einem der Häuser kniete eine junge Frau auf den Steinen und stieß mit einem Stock in das bleifarbene Abflußrohr hinauf, das vom Ausguß drinnen kam und vermutlich verstopft war. Ich hatte Zeit, sie mir genau anzusehen – ihre sackleinene Schürze, ihre klobigen Holzschuhe, ihre von der Kälte geröteten Arme. Sie sah auf, als der Zug vorbeifuhr, und ich war beinahe nah genug, um ihrem Blick zu begegnen. Sie hatte ein rundes bleiches Gesicht, das gewöhnliche, erschöpfte Gesicht eines fünfundzwanzigjährigen Slum-Mädchens, das durch Fehlgeburten und Plackerei aussieht wie vierzig, und es hatte, in der Sekunde, da ich es sah, den verlassensten, hoffnungslosesten Ausdruck, den ich je gesehen habe. Ich merkte mit einem Schlag, daß wir im Irrtum sind, wenn wir sagen, daß es »für sie nicht das gleiche ist, wie es für uns sein würde«, und daß Leute, die in den Slums großgeworden sind, sich nichts anderes vorstellen können als die Slums. Denn was ich in ihrem Gesicht sah, war nicht das unwissende Leiden eines Tieres. Sie wußte ganz genau, was mit ihr geschah – sie wußte so genau wie ich, was für ein schreckliches Los es war, da in der bitteren Kälte auf den schmierigen Steinen eines SlumHinterhofes zu knien und einen Stock in einem verdreckten Abflußrohr hinaufzustoßen.

Aber schon bald fuhr der Zug ins offene Land hinaus, und das wirkte seltsam, fast unnatürlich, als ob die Landschaft eine Art Park wäre; denn in den Industriegebieten hat man immer das Gefühl, daß der Rauch und der Schmutz immer weitergehen und kein Teil der Erdoberfläche ihm entgeht. In einem dichtbesiedelten, schmutzigen kleinen Land wie dem unseren nimmt man Verschmutzung beinahe als selbstverständlich hin. Schlackenberge und Kamine erscheinen als normalere und möglichere Landschaften als Gras und Bäume, und auch draußen auf dem Land erwartet man, wenn man seine Hacke in den Boden schlägt, so halb eine zerbrochene Flasche oder eine rostige Büchse.