Aber hier draußen war der Schnee frei von Fußspuren und lag so hoch, daß nur der oberste Teil der steinernen Grenzmauern, die sich wie schwarze Wege über die Hügel zogen, zu sehen war. Es kam mir in den Sinn, daß D. H. Lawrence, als er über dieselbe oder eine in der Nähe liegende Landschaft schrieb, sagte, daß die schneebedeckten Hügel wellenförmig »wie Muskeln« zum Horizont liefen. Dieser Vergleich wäre mir nicht eingefallen. Für mein Auge wirkten der Schnee und die schwarzen Mauern wie ein weißes Kleid mit schwarzen Streifen. Von der Schneedecke war noch kaum etwas weggeschmolzen, aber die Sonne stand strahlend am Himmel, und hinter den geschlossenen Wagenfenstern schien das Wetter warm. Nach dem Kalender war es Frühling, und ein paar Vögel glaubten das wohl auch. Zum erstenmal in meinem Leben sah ich, auf einem schneefreien Flecken neben der Eisenbahnlinie, Saatkrähen sich paaren. Sie taten es auf dem Boden und nicht, wie ich erwartet hätte, auf einem Baum. Der Balzvorgang war eigenartig. Das Weibchen stand mit offenem Schnabel da, und das Männchen ging um es herum und schien es zu füttern. Ich war kaum eine halbe Stunde im Zug, aber der Weg von der Küche der Brookers zu den weißen Schneehängen, dem strahlenden Sonnenschein und den großen schimmernden Vögeln kam mir lang vor.
Die ganzen Industriegebiete sind eigentlich eine riesige Stadt mit etwa der gleichen Einwohnerzahl wie Groß-London, aber glücklicherweise mit einer viel größeren Fläche, so daß sogar in ihrem Innern noch Platz ist für ein paar saubere und ordentliche Flecken. Das ist ein ermutigender Gedanke. Trotz hartnäckiger Versuche ist es dem Menschen noch nicht gelungen, seinen Dreck überall hinzubringen. Die Erde ist so weit und noch so leer, daß sogar im schmutzigen Herzen der Zivilisation noch Felder zu finden sind, wo das Gras grün ist und nicht grau; wenn man suchte, fände man vielleicht sogar noch Bäche mit lebenden Fischen anstatt Lachs in Dosen. Noch recht lange, vielleicht zwanzig Minuten, fuhr der Zug durch offenes Land, bevor die Vorstadtvillenzivilisation uns wieder einzuschließen begann; dann kamen die äußeren Slums und dann die Schlackenberge, die rauchenden Kamine, die Hochöfen, die Kanäle und Gaskessel der nächsten Industriestadt.
II
Unsere Zivilisation beruht – mit Verlaub, Herr Chesterton – auf Kohle, und zwar viel umfassender, als man sich im klaren ist, bis man einmal darüber nachdenkt. Die Maschinen, die für uns lebensnotwendig sind, und die Maschinen, die die Maschinen herstellen, sind alle direkt oder indirekt von Kohle abhängig. Im Stoffwechsel der Westlichen Welt ist nur noch der Mann, der die Erde pflügt, wichtiger als der Bergmann. Er ist eine Art rußige Karyatide, auf deren Schultern fast alles ruht, was nicht rußig ist. Deshalb lohnt es sich durchaus, den tatsächlichen Prozeß der Kohlegewinnung zu betrachten, wenn man die Gelegenheit dazu hat und die Mühe auf sich nehmen will.
Wenn man in ein Kohlebergwerk einfährt, sollte man versuchen, zur Abbaustelle zu gelangen, wenn die »Füller« an der Arbeit sind. Das ist nicht einfach, denn während der Arbeitszeit sind Besucher lästig und werden nicht eben ermutigt; aber wenn man zu einer andern Zeit geht, bekommt man vielleicht einen völlig falschen Eindruck. An Sonntagen zum Beispiel sieht eine Grube fast friedlich aus. Man muß hingehen, wenn die Maschinen lärmen, die Luft vom Kohlestaub schwarz ist und man wirklich sieht, was die Bergleute tun müssen. Zu diesen Zeiten ist es da unten wie in der Hölle oder jedenfalls so wie in meinem Phantasiebild von der Hölle. Fast alles, was man sich in der Hölle vorstellt, ist da: Hitze, Lärm, Durcheinander, Dunkelheit, stickige Luft, und vor allem eine unerträgliche Enge. Alles ist da bis auf das Feuer, denn da unten gibt es kein Feuer außer dem schwachen Schein der Davylampen und Taschenlampen, die kaum durch die Kohlestaubwolken dringen.
Wenn man endlich unten angelangt ist – und das ist eine Sache für sich, wie ich gleich erklären werde –, kriecht man zwischen der letzten Reihe Grubenhölzer durch und sieht sich dann einer schimmernden schwarzen Wand von drei oder vier Fuß Höhe gegenüber. Das ist das Kohleflöz [engl. »Das Gesicht der Kohle«]. Über sich hat man die glatte Decke; sie besteht aus dem Fels, aus dem die Kohle herausgeschnitten wurde; unter einem ist wieder Fels, so daß der Stollen, in dem man sich befindet, nur so hoch ist wie die Kohleschicht selbst, wahrscheinlich nicht viel mehr als ein Yard.
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