Diese Verbindungen wechseln fortwährend mit der abnehmenden Temperatur, die nicht nur jedes Element, sondern auch jede einzelne Verbindung von Elementen verschieden beeinflußt, mit dem davon abhängenden Übergang eines Teils der gasförmigen Materie zuerst in den flüssigen, dann in den festen Zustand und mit den dadurch geschaffenen neuen Bedingungen.

Die Zeit, wo der Planet eine feste Rinde und Wasseransammlungen auf seiner Oberfläche hat, fällt zusammen mit der, von wo an seine Eigenwärme mehr und mehr zurücktritt gegen die ihm zugesandte Wärme des Zentralkörpers. Seine Atmosphäre wird der Schauplatz meteorologischer Erscheinungen in dem Sinne, wie wir das Wort jetzt verstehn, seine Oberfläche der Schauplatz geologischer Veränderungen, bei denen die durch atmosphärische Niederschläge herbeigeführten Ablagerungen immer mehr Übergewicht erlangen über die sich langsam abschwächenden Wirkungen nach außen des heißflüssigen Innern.[321]

Gleicht sich endlich die Temperatur so weit aus, daß sie wenigstens an einer beträchtlichen Stelle der Oberfläche die Grenzen nicht mehr überschreitet, in denen das Eiweiß lebensfähig ist, so bildet sich, unter sonst günstigen chemischen Vorbedingungen, lebendiges Protoplasma. Welches diese Vorbedingungen sind, wissen wir heute noch nicht, was nicht zu verwundern, da nicht einmal die chemische Formel des Eiweißes bis jetzt feststeht, wir noch nicht einmal wissen, wieviel chemisch verschiedene Eiweißkörper es gibt, und da erst seit ungefähr zehn Jahren die Tatsache bekannt ist, daß vollkommen strukturloses Eiweiß alle wesentlichen Funktionen des Lebens, Verdauung, Ausscheidung, Bewegung, Kontraktion, Reaktion gegen Reize, Fortpflanzung, vollzieht.

Es mag Jahrtausende gedauert haben, bis die Bedingungen eintraten, unter denen der nächste Fortschritt geschehn und dies formlose Eiweiß durch Bildung von Kern und Haut die erste Zelle herstellen konnte. Aber mit dieser ersten Zelle war auch die Grundlage der Formbildung der ganzen organischen Welt gegeben; zuerst entwickelten sich, wie wir nach der ganzen Analogie des paläontologischen Archivs annehmen dürfen, zahllose Arten zellenloser und zelliger Protisten, wovon das einzige Eozoon canadense uns überliefert, und wovon einige allmählich zu den ersten Pflanzen, andre zu den ersten Tieren sich differenzierten. Und von den ersten Tieren aus entwickelten sich, wesentlich durch weitere Differenzierung, die zahllosen Klassen, Ordnungen, Familien, Gattungen und Arten der Tiere, zuletzt die Form, in der das Nervensystem zu seiner vollsten Entwicklung kommt, die der Wirbeltiere, und wieder zuletzt unter diesen das Wirbeltier, in dem die Natur das Bewußtsein ihrer selbst erlangt – der Mensch.

Auch der Mensch entsteht durch Differenzierung. Nicht nur individuell, aus einer einzigen Eizelle bis zum kompliziertesten Organismus differenziert, den die Natur hervorbringt – nein, auch historisch. Als nach jahrtausendelangem Ringen die Differenzierung der Hand vom Fuß, der aufrechte Gang, endlich festgestellt, da war der Mensch vom Affen geschieden, da war der Grund gelegt zur Entwicklung der artikulierten Sprache und zu der gewaltigen Ausbildung des Gehirns, die seitdem die Kluft zwischen Menschen und Affen unübersteiglich gemacht hat. Die Spezialisierung der Hand – das bedeutet das Werkzeug, und das Werkzeug bedeutet die spezifisch menschliche Tätigkeit, die umgestaltende Rückwirkung des Menschen auf die Natur, die Produktion. Auch Tiere im engem Sinne haben Werkzeuge, aber nur als Glieder ihres Leibes – die Ameise, die Biene, der Biber; auch Tiere produzieren, aber ihre produktive Einwirkung auf die umgebende Natur ist dieser gegenüber gleich Null. Nur der Mensch hat es fertiggebracht,[322] der Natur seinen Stempel aufzudrücken, indem er nicht nur Pflanzen und Tiere versetzte, sondern auch den Aspekt, das Klima seines Wohnorts, ja die Pflanzen und Tiere selbst so veränderte, daß die Folgen seiner Tätigkeit nur mit dem allgemeinen Absterben des Erdballs verschwinden können. Und das hat er fertiggebracht zunächst und wesentlich vermittelst der Hand. Selbst die Dampfmaschine, bis jetzt sein mächtigstes Werkzeug zur Umgestaltung der Natur, beruht, weil Werkzeug, in letzter Instanz auf der Hand. Aber mit der Hand entwickelte sich Schritt für Schritt der Kopf, kam das Bewußtsein zuerst der Bedingungen einzelner praktischer Nutzeffekte, und später, bei den begünstigteren Völkern, daraus hervorgehend die Einsicht in die sie bedingenden Naturgesetze. Und mit der rasch wachsenden Kenntnis der Naturgesetze wuchsen die Mittel der Rückwirkung auf die Natur; die Hand allein hätte die Dampfmaschine nie fertiggebracht, hätte das Gehirn des Menschen sich nicht mit und neben ihr und teilweise durch sie korrelativ entwickelt.

Mit dem Menschen treten wir ein in die Geschichte. Auch die Tiere haben eine Geschichte, die ihrer Abstammung und allmählichen Entwicklung bis auf ihren heutigen Stand. Aber diese Geschichte wird für sie gemacht, und soweit sie selbst daran teilnehmen, geschieht es ohne ihr Wissen und Wollen. Die Menschen dagegen, je mehr sie sich vom Tier im engeren Sinn entfernen, desto mehr machen sie ihre Geschichte selbst, mit Bewußtsein, desto geringer wird der Einfluß unvorhergesehener Wirkungen, unkontrollierter Kräfte auf diese Geschichte, desto genauer entspricht der geschichtliche Erfolg dem vorher festgestellten Zweck. Legen wir aber diesen Maßstab an die menschliche Geschichte, selbst der entwickeltsten Völker der Gegenwart, so finden wir, daß hier noch immer ein kolossales Mißverhältnis besteht zwischen den vorgesteckten Zielen und den erreichten Resultaten, daß die unvorhergesehenen Wirkungen vorherrschen, daß die unkontrollierten Kräfte weit mächtiger sind als die planmäßig in Bewegung gesetzten. Und dies kann nicht anders sein, solange die wesentlichste geschichtliche Tätigkeit der Menschen, diejenige, die sie aus der Tierheit zur Menschheit emporgehoben hat, die die materielle Grundlage aller ihrer übrigen Tätigkeiten bildet, die Produktion ihrer Lebensbedürfnisse, d.h. heutzutage die gesellschaftliche Produktion, erst recht dem Wechselspiel unbeabsichtigter Einwirkungen von unkontrollierten Kräften unterworfen ist und den gewollten Zweck nur ausnahmsweise, weit häufiger aber sein grades Gegenteil realisiert. Wir haben in den fortgeschrittensten Industrieländern die Naturkräfte gebändigt und in den Dienst der Menschen gepreßt; wir haben damit die Produktion ins unendliche vervielfacht, so[323] daß ein Kind jetzt mehr erzeugt als früher hundert Erwachsene. Und was ist die Folge? Steigende Überarbeit und steigendes Elend der Massen und alle zehn Jahre ein großer Krach. Darwin wußte nicht, welch bittre Satire er auf die Menschen und besonders auf seine Landsleute schrieb, als er nachwies, daß die freie Konkurrenz, der Kampf ums Dasein, den die Ökonomen als höchste geschichtliche Errungenschaft feiern, der Normalzustand des Tierreichs ist. Erst eine bewußte Organisation der gesellschaftlichen Produktion, in der planmäßig produziert und verteilt wird, kann die Menschen ebenso in gesellschaftlicher Beziehung aus der übrigen Tierwelt herausheben, wie dies die Produktion überhaupt für die Menschen in spezifischer Beziehung getan hat. Die geschichtliche Entwicklung macht eine solche Organisation täglich unumgänglicher, aber auch täglich möglicher. Von ihr wird eine neue Geschichtsepoche datieren, in der die Menschen selbst, und mit ihnen alle Zweige ihrer Tätigkeit, namentlich auch die Naturwissenschaft, einen Aufschwung nehmen werden, der alles Bisherige in tiefen Schatten stellt.

Indes, »alles was entsteht, ist wert, daß es zugrunde geht«. Millionen Jahre mögen darüber vergehn, Hunderttausende von Geschlechtern geboren werden und sterben; aber unerbittlich rückt die Zeit heran, wo die sich erschöpfende Sonnenwärme nicht mehr ausreicht, das von den Polen herandrängende Eis zu schmelzen, wo die sich mehr und mehr um den Äquator zusammendrängenden Menschen endlich auch dort nicht mehr Wärme genug zum Leben finden, wo nach und nach auch die letzte Spur organischen Lebens verschwindet und die Erde, ein erstorbner, erfrorner Ball wie der Mond, in tiefer Finsternis und in immer engeren Bahnen um die ebenfalls erstorbne Sonne kreist und endlich hineinfällt. Andre Planeten werden ihr vorangegangen sein, andre folgen ihr; anstatt des harmonisch gegliederten, hellen, warmen Sonnensystems verfolgt nur noch eine kalte, tote Kugel ihren einsamen Weg durch den Weltraum. Und so wie unserm Sonnensystem ergeht es früher oder später allen andern Systemen unsrer Weltinsel, ergeht es denen aller übrigen zahllosen Weltinseln, selbst denen, deren Licht nie die Erde erreicht, solange ein menschliches Auge auf ihr lebt, es zu empfangen.

Und wenn nun ein solches Sonnensystem seinen Lebenslauf vollbracht und dem Schicksal alles Endlichen, dem Tode verfallen ist, wie dann? Wird die Sonnenleiche in Ewigkeit als Leiche durch den unendlichen Raum fortrollen und alle die ehemals unendlich mannigfaltig differenzierten Naturkräfte für immer in die eine Bewegungsform der Attraktion aufgehn?

[324] »Oder«, wie Secchi fragt (p.810), »sind Kräfte in der Natur vorhanden, welche das tote System in den anfänglichen Zustand des glühenden Nebels zurückversetzen und es zu neuem Leben wieder aufwecken können? Wir wissen es nicht.«

Allerdings wissen wir das nicht in dem Sinn, wie wir wissen, daß 2 X 2 = 4 ist, oder daß die Attraktion der Materie zu- und abnimmt nach dem Quadrat der Entfernung. Aber in der theoretischen Naturwissenschaft, die ihre Naturanschauung möglichst zu einem harmonischen Ganzen verarbeitet und ohne die heutzutage selbst der gedankenloseste Empiriker nicht vom Fleck kommt, haben wir sehr oft mit unvollkommen bekannten Größen zu rechnen und hat die Konsequenz des Gedankens zu allen Zeiten der mangelhaften Kenntnis forthelfen müssen. Nun hat die moderne Naturwissenschaft den Satz von der Unzerstörbarkeit der Bewegung von der Philosophie adoptieren müssen; ohne ihn kann sie nicht mehr bestehn. Die Bewegung der Materie aber, das ist nicht bloß die grobe mechanische Bewegung, die bloße Ortsveränderung, das ist Wärme und Licht, elektrische und magnetische Spannung, chemisches Zusammengehn und Auseinandergehn, Leben und schließlich Bewußtsein. Sagen, daß die Materie während ihrer ganzen zeitlos unbegrenzten Existenz nur ein einziges Mal und für eine ihrer Ewigkeit gegenüber verschwindend kurze Zeit in der Möglichkeit sich befindet, ihre Bewegung zu differenzieren und dadurch den ganzen Reichtum dieser Bewegung zu entfalten, und daß sie vor- und nachher in Ewigkeit auf bloße Ortsveränderung beschränkt bleibt – das heißt behaupten, daß die Materie sterblich und die Bewegung vergänglich ist.