petitionierte. Ob nun der Verlust seines Sohnes Kingsley und seines Bruders Innes durch den Krieg Doyles Entwicklung in diese Richtung auslöste oder ob die Neigung zu Klopfgeistern und Botschaften aus dem Jenseits sich bereits in den Universitätsjahren entwickelte – möglicherweise als Nebenprodukt seiner radikalen Abwendung vom Katholizismus, die ihn im Spiritismus einen Ersatz suchen ließ – und durch die Erschütterungen, die er im Krieg erfuhr, nur aktiviert wurde, mag dahingestellt sein. Erstaunlich bleibt, daß Doyle eine schier fanatische und intolerante Anhänglichkeit an einen primitiven Aberglauben zeigte, da er doch bekannt dafür war, daß er sich – zwar unsystematisch, doch intensiv – mit den Forschungen und Ergebnissen der verschiedensten Wissenschaftszweige (von der Geschichte bis zur Geologie, von der Archäologie bis zur Astronomie) beschäftigte und von einer geradezu gläubigen Verehrung der Wissenschaften als Träger des menschlichen Fortschritts besessen war.
Jedoch hat der Spiritismus in den vor und nach dem 1. Weltkrieg erschienenen belletristischen Schriften keine Spuren hinterlassen, nicht in seinen historischen Romanen und Erzählungen; nicht in seinen der Science Fiction zuneigenden Romanen um den phantasiebegabten und abenteuerlustigen Professor Challenger (unter anderen ›Der Giftgürtel‹ [›The Poison Belt‹] 1913, und ›Die verlorene Welt‹ [›The Lost World‹] 1921); nicht in seinen vom eigenen Erleben angeregten Büchern (›Der Kapitän der ‚Polarstern’‹, [›The Captain of the ‚Pole Star’‹] 1888; ›Unter der roten Lampe‹, [›Round the Red Lamp‹] 1894; ›Die Briefe des Stark Munro‹, [›The Stark Munro Letters‹] 1895; ›Ein Duett‹, [›A Duet‹] 1899); und auch nicht in den Romanen und Erzählungen um Sherlock Holmes.
Sherlock Holmes stellte sich 1887 in dem Roman › Späte Rache‹ (›A Study in Scarlet‹), der in ›Beeton’s Xmas Annual‹ erschien, zum ersten Mal dem Publikum vor, erregte jedoch mit seinem Auftritt kaum Aufsehen. Zwar war der Verleger des in Philadelphia herausgegebenen ›Lippincott’s Magazine‹ auf den Autor aufmerksam geworden und bestellte bei ihm einen weiteren, nicht zu umfangreichen Roman mit Sherlock Holmes als Helden, der dann im Februar 1890 unter dem Titel ›Das Zeichen der Vier‹ (›The Sign of Four‹) veröffentlicht wurde, doch blieb auch dieser zweite Auftritt von Holmes auf der literarischen Szene ohne Folgen. Die Leser hatten noch nicht das rechte Verständnis für den Amateur-Detektiv aus der Baker Street und seinen Freund und Bewunderer Dr. John H. Watson, durch dessen Bericht sie die Lösung zweier komplizierter Kriminalfälle miterlebten. Sie wußten noch nicht die immense Deduktionsfähigkeit und den Mut und die Gewandtheit des Mannes zu schätzen, der die Gerechtigkeit in die eigenen Hände nahm, wenn die Polizei Findigkeit und Entschlossenheit nicht in genügendem Maß aufbrachte; sie fanden noch nicht ihr Vergnügen an den Marotten des Genies an Scharfsinn, das sich in großen Dosen Morphium und Kokain verabreichte, um sich die Langeweile des Alltags erträglich zu machen.
Und so mußte der Autor weiterhin seiner bürgerlichen Profession nachgehen, um seine Familie schlecht und recht ernähren zu können. 1890 reiste er nach Berlin, wo er einer Demonstration am Institut Robert Kochs beiwohnte; anschließend weilte er für drei Monate in Wien, um neue Methoden der Augenheilkunde zu studieren, und ließ sich dann, voller Hoffnung, als Spezialist mehr Zulauf an Patienten registrieren zu können, als Arzt in London nieder. Doch auch jetzt wollte der Erfolg sich nicht einstellen. ›Meine Praxis bestand aus einem Wartezimmer und einem Konsultationszimmer‹, schrieb Conan Doyle in Erinnerung an diese Wochen, ›ich wartete im Konsultationszimmer, und niemand wartete im Wartezimmer.‹ So beschloß er im August 1891, den Arztberuf aufzugeben und hinfort nur noch von der Feder zu leben – ein mutiger Schritt.
Im Monat zuvor war in der von George Newness soeben gegründeten Zeitschrift ›The Strand Magazine‹ die erste von sechs kurzen Geschichten um Sherlock Holmes erschienen: ›Ein Skandal in Bohemia‹ (›A Scandal in Bohemia‹); sie hatte dem Autor 35 Pfund eingetragen, ein bescheidenes Honorar, verglichen mit den Summen, die er in späteren Jahren für seine Magazin-Stories und deren Dramatisierungen bezog. Jetzt wurde das Publikum aufmerksam, sorgte für reißenden Absatz der Zeitschrift, was wiederum den Verleger veranlaßte, Conan Doyle um ein weiteres halbes Dutzend Geschichten für das erhöhte Honorar von
50 Pfund pro Story zu bitten (1892 erschienen dann die ersten zwölf Erzählungen auch als Buch unter dem Titel ›Die Abenteuer von Sherlock Hol
mes‹ (›The Adventures of Sherlock Holmes‹). Ein Jahr später, als Newness eine neue Serie von Holmes-Abenteuern bestellte, erhöhte Doyle seine Forderung auf 1000 Pfund, in der Annahme, wie er in einem Brief an seine Mutter schrieb, damit das Drängen des Verlegers nach einer Art von Magazingeschichten gehörig gedämpft zu haben, die so gar nicht mit seinen Ambitionen, mit Scott und Stevenson in eine Reihe gestellt zu werden, harmonierte. Jedoch Newness akzeptierte diese Summe sofort, und so entstand eine zweite Folge, diesmal von elf Geschichten um den Meisterdetektiv, die nach der Veröffentlichung im ›Strand Magazine‹ 1893 auch gebunden auf den Markt kam: ›Die Memoiren von Sherlock Holmes‹ (›The Memoires of Sherlock Holmes‹). Mit der letzten Geschichte unter dem Titel ›Sein letzter Fall‹ (›The Final Problem‹), in der Holmes bei der Verfolgung des genialen und damit dem Detektiv fast ebenbürtigen Verbrechers Professor Moriarty die Wasserfälle von Reichenbach, die Doyle bei einer Reise in die Schweiz besucht hatte, hinunterstürzt und den Tod erleidet, wollte sich der Autor sein lästig gewordenes Geschöpf endgültig vom Hals schaffen, um sich ganz dem widmen zu können, zu dem er sich berufen fühlte.
Doch es kam anders. Das Publikum reagierte äußerst heftig auf den ›Tod‹ eines Mannes, dessen Scharfsinn und Klugheit ihm ans Herz gewachsen waren. Es wird von jungen Leuten berichtet, die am Piccadilly Circus in Trauerkleidung demonstrierten; Conan Doyle erhielt eine Flut von Protestbriefen und ungezählte Schreiben, in denen er gebeten wurde, seinen Helden wiederaufleben zu lassen. Verleger und Agenten drängten auf Fortsetzung der Serie und boten phantastische Honorare an. Auf einer Lese- und Vortragsreise durch die USA im Jahre 1894 schlug ihm, dem Schöpfer des auch in Amerika mit Begeisterung aufgenommenen Meisterdetektivs, eine Welle der Sympathie und Verehrung entgegen, die ihn bewegen sollte, Holmes und Watson aufs neue in Aktion zu zeigen. Doch Conan Doyle blieb unnachgiebig gegenüber allem Drängen. An einen Freund schrieb er: ›Ich könnte ihn nicht wiederbeleben, selbst wenn ich wollte, wenigstens nicht auf Jahre hinaus, denn ich habe ihn in solcher Überdosis genossen, daß es mir mit ihm so ergeht wie mit der ‚pâté de foie gras’, von der ich einmal zuviel gegessen habe, so daß mir bis heute übel wird, wenn ich nur den Namen höre.‹
Und in der Tat dauerte es fast zehn Jahre, bis die Idiosynkrasie gegen seine Figur so weit abgebaut war, daß er sich wieder mit ihr befassen konnte. Es ist zu vermuten, daß auch finanzielle Erwägungen beigetragen haben, die Abneigung zu überwinden; denn Doyles Frau war an einem Lungenleiden unheilbar erkrankt und bedurfte langer und kostspieliger Aufenthalte im milden Klima Südeuropas und Nordafrikas (sie starb 1906, und Conan Doyle heiratete ein Jahr später zum zweiten Mal).
Von August 1901 bis April 1902 ließ er, gleichsam als Vorankündigung der Auferstehung seines Helden, in ›The Strand Magazine‹ den mit Motiven und Methoden der Grusel-Story operierenden Roman ›Der Hund von Baskerville‹ (›The Hound of the Baskervilles‹) erscheinen, den er als die Aufzeichnung eines frühen Abenteuers Sherlock Holmes’ ausgab, diesem dritten seiner HolmesRomane folgte dann 1915 der vierte und letzte unter dem Titel › Das Tal des Grauens‹ (›The Valley of Fear‹). In der Oktober-Ausgabe des Jahres
1903 wurde ›Das leere Haus‹ (›The Empty House‹) abgedruckt, die Geschichte, in der Holmes wieder auftaucht und seinem Freund Watson lapidar erklärt, er sei bei seinem Sturz in die Wasserfälle von Reichenbach nicht zu Tode gekommen, sondern habe sich retten können und sei anschließend in der Welt umhergereist.
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