Aber es kommt auch vor,
daß ihre Hunde damit ausgehen. Weshalb auch nicht? Gesicht
ist Gesicht.
Andere Leute setzen unheimlich schnell ihre Gesichter auf, eins
nach dem andern, und tragen sie ab. Es scheint ihnen zuerst, sie
hätten für immer, aber sie sind kaum vierzig; da ist
schon das letzte. Das hat natürlich seine Tragik. Sie sind
nicht gewohnt, Gesichter zu schonen, ihr letztes ist in acht Tagen
durch, hat Löcher, ist an vielen Stellen dünn wie Papier,
und da kommt dann nach und nach die Unterlage heraus, das
Nichtgesicht, und sie gehen damit herum.
Aber die Frau, die Frau: sie war ganz in sich hineingefallen,
vornüber in ihre Hände. Es war an der Ecke rue
Notre-Dame-des-Champs. Ich fing an, leise zu gehen, sowie ich sie
gesehen hatte. Wenn arme Leute nachdenken, soll man sie nicht
stören. Vielleicht fällt es ihnen doch ein.
Die Straße war zu leer, ihre Leere langweilte sich und zog
mir den Schritt unter den Füßen weg und klappte mit ihm
herum, drüben und da, wie mit einem Holzschuh. Die Frau
erschrak und hob sich aus sich ab, zu schnell, zu heftig, so
daß das Gesicht in den zwei Händen blieb. Ich konnte es
darin liegen sehen, seine hohle Form. Es kostete mich
unbeschreibliche Anstrengung, bei diesen Händen zu bleiben und
nicht zu schauen, was sich aus ihnen abgerissen hatte. Mir graute,
ein Gesicht von innen zu sehen, aber ich fürchtete mich doch
noch viel mehr vor dem bloßen wunden Kopf ohne Gesicht.
Ich fürchte mich. Gegen die Furcht muß man etwas tun,
wenn man sie einmal hat. Es wäre sehr häßlich, hier
krank zu werden, und fiele es jemandem ein, mich ins
Hôtel-Dieu zu schaffen, so würde ich dort gewiß
sterben. Dieses Hôtel ist ein angenehmes Hôtel,
ungeheuer besucht. Man kann kaum die Fassade der Kathedrale von
Paris betrachten ohne Gefahr, von einem der vielen Wagen, die so
schnell wie möglich über den freien Plan dort hinein
müssen, überfahren zu werden. Das sind kleine Omnibusse,
die fortwährend läuten, und selbst der Herzog von Sagan
müßte sein Gespann halten lassen, wenn so ein kleiner
Sterbender es sich in den Kopf gesetzt hat, geradenwegs in Gottes
Hôtel zu wollen. Sterbende sind starrköpfig, und ganz
Paris stockt, wenn Madame Legrand, brocanteuse aus der rue des
Martyrs, nach einem gewissen Platz der Cité gefahren kommt.
Es ist zu bemerken, daß diese verteufelten kleinen Wagen
ungemein anregende Milchglasfenster haben, hinter denen man sich
die herrlichsten Agonien vor stellen kann; dafür genügt
die Phantasie einer Concierge. Hat man noch mehr Einbildungskraft
und schlägt sie nach anderen Richtungen hin, so sind die
Vermutungen geradezu unbegrenzt. Aber ich habe auch offene
Droschken ankommen sehen, Zeitdroschken mit aufgeklapptem Verdeck,
die nach der üblichen Taxe fuhren: Zwei Francs für die
Sterbestunde.
Dieses ausgezeichnete Hôtel ist sehr alt, schon zu
König Chlodwigs Zeiten starb man darin in einigen Betten.
Jetzt wird in 559 Betten gestorben. Natürlich
fabrikmäßig. Bei so enormer Produktion ist der einzelne
Tod nicht so gut ausgeführt, aber darauf kommt es auch nicht
an. Die Masse macht es. Wer giebt heute noch etwas für einen
gut ausgearbeiteten Tod? Niemand. Sogar die Reichen, die es sich
doch leisten könnten, ausführlich zu sterben, fangen an,
nachlässig und gleichgültig zu werden; der Wunsch, einen
eigenen Tod zu haben, wird immer seltener. Eine Weile noch, und er
wird ebenso selten sein wie ein eigenes Leben. Gott; das ist alles
da. Man kommt, man findet ein Leben, fertig, man hat es nur
anzuziehen. Man will gehen oder man ist dazu gezwungen: nun, keine
Anstrengung: Voilà votre mort, monsieur.
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