Man stirbt, wie es
gerade kommt; man stirbt den Tod, der zu der Krankheit gehört,
die man hat (denn seit man alle Krankheiten kennt, weiß man
auch, daß die verschiedenen letalen Abschlüsse zu den
Krankheiten gehören und nicht zu den Menschen; und der Kranke
hat sozusagen nichts zu tun).
In den Sanatorien, wo ja so gern und mit so viel Dankbarkeit
gegen Ärzte und Schwestern gestorben wird, stirbt man einen
von den an der Anstalt angestellten Toden; das wird gerne gesehen.
Wenn man aber zu Hause stirbt, ist es natürlich, jenen
höflichen Tod der guten Kreise zu wählen, mit dem
gleichsam das Begräbnis erster Klasse schon anfängt und
die ganze Folge seiner wunderschönen Gebräuche. Da stehen
dann die Armen vor so einem Haus und sehen sich satt. Ihr Tod ist
natürlich banal, ohne alle Umstände. Sie sind froh, wenn
sie einen finden, der ungefähr paßt. Zu weit darf er
sein: man wächst immer noch ein bißchen. Nur wenn er
nicht zugeht über der Brust oder würgt, dann hat es seine
Not.
Wenn ich nach Hause denke, wo nun niemand mehr ist, dann glaube
ich, das muß früher anders gewesen sein. Früher
wußte man (oder vielleicht man ahnte es), daß man den
Tod in sich hatte wie die Frucht den Kern. Die Kinder hatten einen
kleinen in sich und die Erwachsenen einen großen. Die Frauen
hatten ihn im Schooß und die Männer in der Brust. Den
hatte man, und das gab einem eine eigentümliche Würde und
einen stillen Stolz.
Meinem Großvater noch, dem alten Kammerherrn Brigge, sah
man es an, daß er einen Tod in sich trug. Und was war das
für einer: zwei Monate lang und so laut, daß man ihn
hörte bis aufs Vorwerk hinaus.
Das lange, alte Herrenhaus war zu klein für diesen Tod, es
schien, als müßte man Flügel anbauen, denn der
Körper des Kammerherrn wurde immer größer, und er
wollte fortwährend aus einem Raum in den anderen getragen sein
und geriet in fürchterlichen Zorn, wenn der Tag noch nicht zu
Ende war und es gab kein Zimmer mehr, in dem er nicht schon gelegen
hatte. Dann ging es mit dem ganzen Zuge von Dienern, Jungfern und
Hunden, die er immer um sich hatte, die Treppe hinauf und, unter
Vorantritt des Haushofmeisters, in seiner hochseligen Mutter
Sterbezimmer, das ganz in dem Zustande, in dem sie es vor
dreiundzwanzig Jahren verlassen hatte, erhalten worden war und das
sonst nie jemand betreten durfte. Jetzt brach die ganze Meute dort
ein. Die Vorhänge wurden zurückgezogen, und das robuste
Licht eines Sommernachmittags untersuchte alle die scheuen,
erschrockenen Gegenstände und drehte sich ungeschickt um in
den aufgerissenen Spiegeln. Und die Leute machten es ebenso. Es gab
da Zofen, die vor Neugierde nicht wußten, wo ihre Hände
sich gerade aufhielten, junge Bediente, die alles anglotzten, und
ältere Dienstleute, die herumgingen und sich zu erinnern
suchten, was man ihnen von diesem verschlossenen Zimmer, in dem sie
sich nun glücklich befanden, alles erzählt hatte.
Vor allem aber schien den Hunden der Aufenthalt in einem Raum,
wo alle Dinge rochen, ungemein anregend. Die großen, schmalen
russischen Windhunde liefen beschäftigt hinter den
Lehnstühlen hin und her, durchquerten in langem Tanzschritt
mit wiegender Bewegung das Gemach, hoben sich wie Wappenhunde auf
und schauten, die schmalen Pfoten auf das weißgoldene
Fensterbrett gestützt, mit spitzem, gespanntem Gesicht und
zurückgezogener Stirn nach rechts und nach links in den Hof.
Kleine, handschuhgelbe Dachshunde saßen, mit Gesichtern, als
wäre alles ganz in der Ordnung, in dem breiten, seidenen
Polstersessel am Fenster, und ein stichelhaariger, mürrisch
aussehender Hühnerhund rieb seinen Rücken an der Kante
eines goldbeinigen Tisches, auf dessen gemalter Platte die
Sèvrestassen zitterten.
Ja, es war für diese geistesabwesenden, verschlafenen Dinge
eine schreckliche Zeit. Es passierte, daß aus Büchern,
die irgendeine hastige Hand ungeschickt geöffnet hatte,
Rosenblätter heraustaumelten, die zertreten wurden; kleine,
schwächliche Gegenstände wurden ergriffen und, nachdem
sie sofort zerbrochen waren, schnell wieder hingelegt, manches
Verbogene auch unter Vorhänge gesteckt oder gar hinter das
goldene Netz des Kamingitters geworfen. Und von Zeit zu Zeit fiel
etwas, fiel verhüllt auf Teppich, fiel hell auf das harte
Parkett, aber es zerschlug da und dort, zersprang scharf oder brach
fast lautlos auf, denn diese Dinge, verwöhnt wie sie waren,
vertrugen keinerlei Fall.
Und wäre es jemandem eingefallen zu fragen, was die Ursache
von alledem sei, was über dieses ängstlich gehütete
Zimmer alles Untergangs Fülle herabgerufen habe,--so
hätte es nur eine Antwort gegeben: der Tod.
Der Tod des Kammerherrn Christoph Detlev Brigge auf Ulsgaard.
Denn dieser lag, groß über seine dunkelblaue Uniform
hinausquellend, mitten auf dem Fußboden und rührte sich
nicht. In seinem großen, fremden, niemandem mehr bekannten
Gesicht waren die Augen zugefallen: er sah nicht, was geschah. Man
hatte zuerst versucht, ihn auf das Bett zu legen, aber er hatte
sich dagegen gewehrt, denn er haßte Betten seit jenen ersten
Nächten, in denen seine Krankheit gewachsen war. Auch hatte
sich das Bett da oben als zu klein erwiesen, und da war nichts
anderes übrig geblieben, als ihn so auf den Teppich zu legen;
denn hinunter hatte er nicht gewollt.
Da lag er nun, und man konnte denken, daß er gestorben
sei. Die Hunde hatten sich, da es langsam zu dämmern begann,
einer nach dem anderen durch die Türspalte gezogen, nur der
Harthaarige mit dem mürrischen Gesicht saß bei seinem
Herrn, und eine von seinen breiten, zottigen Vorderpfoten lag auf
Christoph Detlevs großer, grauer Hand. Auch von der
Dienerschaft standen jetzt die meisten draußen in dem
weißen Gang, der heller war als das Zimmer; die aber, welche
noch drinnen geblieben waren, sahen manchmal heimlich nach dem
großen, dunkelnden Haufen in der Mitte, und sie
wünschten, daß das nichts mehr wäre als ein
großer Anzug über einem verdorbenen Ding.
Aber es war noch etwas. Es war eine Stimme, die Stimme, die noch
vor sieben Wochen niemand gekannt hatte: denn es war nicht die
Stimme des Kammerherrn. Nicht Christoph Detlev war es, welchem
diese Stimme gehörte, es war Christoph Detlevs Tod.
Christoph Detlevs Tod lebte nun schon seit vielen, vielen Tagen
auf Ulsgaard und redete mit allen und verlangte. Verlangte,
getragen zu werden, verlangte das blaue Zimmer, verlangte den
kleinen Salon, verlangte den Saal. Verlangte die Hunde, verlangte,
daß man lache, spreche, spiele und still sei und alles
zugleich. Verlangte Freunde zu sehen, Frauen und Verstorbene, und
verlangte selber zu sterben: verlangte. Verlangte und schrie.
Denn, wenn die Nacht gekommen war und die von den
übermüden Dienstleuten, welche nicht Wache hatten,
einzuschlafen versuchten, dann schrie Christoph Detlevs Tod, schrie
und stöhnte, brüllte so lange und anhaltend, daß
die Hunde, die zuerst mitheulten, verstummten und nicht wagten sich
hinzulegen und, auf ihren langen, schlanken, zitternden Beinen
stehend, sich fürchteten.
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