Fasten und Beten ist ihr Gesetz und ihr Vergnügen. Und wenn sie etwas in der Religion zu befehlen hätte: so würde sie alle Fest-, Sonn- und Aposteltage zu Fasttagen machen, so sehr liebt sie die Enthaltung vom Essen und Trinken.

FERDINAND. Wie ich merke, so mag ihr diese Tugend sehr natürlich[448] sein. Meine Frau Muhme wird vielleicht das Fasten lieben, weil sie geizig ist.

LORCHEN. Das will ich eben nicht sagen. Wer ihr aber vorwirft, daß sie das Ihrige nicht zu Rate hält, der kann diese Verleumdung in Ewigkeit nicht verbeten.

FERDINAND. Reden Sie nicht so durch Umschweife mit mir, mein liebes Jungfer Lorchen, sondern tun Sie, als wenn die Frau Richardin meine Frau Muhme nicht wäre! Sie leben schon ein Jahr in ihrem Hause und müssen mir die beste Beschreibung von ihr machen können. Ich habe die gute Frau vor drei Tagen in meinem Leben zum ersten Male gesehen. Und ich hoffe, daß mir der Abschied von ihr nicht sauer werden soll. Machen Sie mir doch einen kleinen Charakter. Denn, wie ich glaube, so mag es mit ihrer großen Frömmigkeit eben nicht so richtig sein, als mir die Leute gesagt haben.

LORCHEN. Wer die Tugend in den Mienen und auf den Lippen zu suchen gewohnt ist, der kann der Frau Richardin ihren Ruhm unmöglich absprechen. Alles ist fromm an ihr; ihre Mienen, ihre Sprache, ihr Gang, ihre Kleidung. Kurz, alles stimmt an ihr mit der Andacht überein. Sie ist eine Feindin aller Eitelkeit, und sie hält mit der größten Demut an den ehrbaren Sitten ihrer Vorfahren.

FERDINAND. Das letzte höre ich gern. Ich bin ein großer Freund von den unschuldigen Sitten unserer Voreltern. Und wenn meine Frau Muhme nur ein gutes Herz hat: so will ich ihr die Unrichtigkeit in ihren Meinungen gern übersehen.

LORCHEN. Geben Sie nur recht Achtung auf sie. Sie werden die Sitten ihrer Großgroßeltern noch unversehrt an ihr finden. Alle Schnitte von Kleidern und Hauben, wie sie vor funfzig Jahren gebräuchlich gewesen sind, behält sie standhaft bei. Und ehe sie den kleinen Fischbeinrock, den langen Pelz und die niedrigen Absätze fahren ließe: ehe bestätigte sie die Unschuld dieser Sitten mit ihrem Tode.

FERDINAND. Sind dieses die frommen Sitten der Alten? Dies sind ja ihre Moden.

LORCHEN. Die Frau Richardin weiß es besser. Wer sich trägt, wie die Alten gingen, der ist ehrbar und sittsam. Und wer zehn oder zwölf Jahre in einem Kleide gehen kann, der ist demütig und sanftmütig.

FERDINAND. Das ist eine treffliche Moral! Meine Frau Muhme sollte[449] ein ganzes Buch von den Kennzeichen der Tugenden schreiben. Ich glaube, sie spräche allen Leuten den Himmel ab, die ihre Kleider dem Willen der Mode und der Schneider überlassen. Sagen Sie mir nur, was sie den ganzen Tag macht.

LORCHEN. Dieses kann ich ihnen leicht sagen.