Vielleicht hat dieser Unglückselige ein gutes Herz gehabt. Und wie Sie mir ihn beschrieben haben: so kann er wohl schwerlich arbeiten.
FRAU RICHARDIN. So, wenn er auch nicht arbeiten kann, soll er mich denn in der Andacht stören? Soll ich meine Gedanken von himmlischen, von überirdischen Dingen abziehen und sie auf einen irdischen Menschen, auf einen Krüppel, einen elenden Wurm richten? Denn was sind wir Menschen denn anders? Würmer, arme boshafte Würmer sind wir.
FERDINAND. Ja, ja. Aber das Gebot zu beten schließt das Gebot der Liebe und des Mitleidens nicht aus.
FRAU RICHARDIN. Nein, bete und arbeite! Dieses sollen alle Menschen tun. Niemand soll dem lieben Gott die Tage abstehlen, noch andern ehrlichen Leuten durch sein unverschämtes Betteln das Leben und die Erhaltung ihres Hauses sauer machen. Der gottlose Mensch!
FERDINAND. Doch, wir sollen ja wohltun. Wir sollen andern beistehen und das Weh und die Anzahl der Elenden zu verringern suchen. Und ich dächte, Werke der Liebe wären so nötig als die Andacht. Ja ich weiß nicht anders, als daß Liebe und Mitleiden notwendige Folgen der Andacht und der Erhebung unsers Geistes zu Gott und zu unsern Pflichten sind. Die Armen sind doch eben sowohl nötig auf der Welt als die Reichen.
FRAU RICHARDIN. Alles gut! Alles wahr! Man muß geben. Man muß förderlich und dienstlich sein. Aber man muß erst an die Seinigen, an sein Haus, an sich und seine armen Kinder denken. Wissen Sie, wer ärger als ein Heide ist? Wer seine Kinder nicht versorgt; wer das Seinige wegwirft. Eben durch die Gutheit macht man nur mehr Bettler, denn man wird endlich darüber[452] selbst zum Bettler. Obrigkeitliche Personen sollten allezeit darauf sehen, daß dem heillosen Bettelwesen gesteuert würde.
FERDINAND. Ja doch, Frau Muhme! Sie tun es auch. Aber es gibt ja Leute, die weder Kräfte noch Glieder zur Arbeit haben; oder die durch Unglücksfälle oder durch anderer Leute Geiz und Bosheit um das Ihrige gekommen sind. Sollen denn diese verhungern und aus Sorge, uns durch ihre Bitten um einen Dreier zu bringen, lieber weinen als essen? Doch wir wollen keine theologischen Untersuchungen anstellen. Sie werden die Pflichten der Religion und der Menschenliebe ohne mich wissen. Lassen Sie uns nun zu den Heiratspunkten schreiten! Denn Herr Simon wird gleich da sein und um Ihre versprochene Einwilligung nochmals gehorsamst bitten.
FRAU RICHARDIN. Ja! Es ist ein ganz feiner Mensch. Ich habe nichts an ihm auszusetzen. Wenn mich nur der Bösewicht, der Bettler, nicht so geärgert hätte: so könnte ich doch etwan überlegen, wieviel ich, ohne zu darben, meiner Tochter mitgeben könnte. Da kommt Lorchen. Es wird gewiß wieder etwas geben.[453]
Dritter Auftritt
Die Vorigen. Lorchen.
LORCHEN zu Frau Richardin. Sie sollen so gütig sein und einen Augenblick herauskommen.
1 comment