Mit dem Schlage zehn springt sie von ihrem Betstuhle auf[454] und tritt an den Silberschrank und fängt an, aus allen Kräften zu singen. Sie zählt ihr Silberwerk, ihr Geschmeide und ihre Pfänder durch. Sobald sie die geringste Unrichtigkeit findet: so hält sie inne mit Singen und zählt und ziffert mit der Kreide an die Schranktüre. Ist die Sache richtig: so geht ihr holdseliges Singen wieder fort. Nun schlägt es elfe; da nimmt sie einen eisernen Kasten und verschließt sich in ihre Schlafkammer und ...

FERDINAND. Ich höre es schon. Sie wird zählen und dem Himmel ihre Sparsamkeit anpreisen. In Wahrheit, man sollte wünschen, daß die Frau um die Hälfte ihres Vermögens käme, damit sie vernünftig und christlich würde. Es ist ihr größtes Unglück, daß sie reich ist.

LORCHEN. So klingt der Frau Muhme ihre Theologie nicht. Alles, was sie hat, ist ein Segen des Herrn. Und aller dieser Segen ist die sichtbare Belohnung ihrer Frömmigkeit, das ist, ihres Betens und Singens.

FERDINAND. Also ist sie wohl so andächtig, damit der Himmel wieder erkenntlich sein und sie noch reicher machen soll?

LORCHEN. Jawohl. Eben deswegen singt und betet sie alle Stunden, weil sie alle Stunden reicher werden will. Ihre Andacht ist eigentlich ein Vertrag, den sie mit dem lieben Gott in ihren Gedanken gemacht hat, kraft dessen er ihre Kapitalia vermehren, ihre Interessen segnen, und ihr Haus wohl in Acht nehmen soll; dafür will sie ihm den Dienst erweisen, und alle Tage so viel Stunden beten, so viel Stunden singen, und so viel Kapitel in der Bibel lesen.

FERDINAND. Ein solcher Vertrag ist auch recht vernünftig. Auf diese Art weiß man doch, worauf man sich zu verlassen hat, und warum man so andächtig ist. Wir einfältigen Leute sehen die Andacht für ein Mittel an, das uns in der Tugend stärken soll. Allein meine Frau Muhme kennt die Religion besser. Was ist es denn mit der Tugend und mit der Gemütsruhe? Wer kann davon leben? Am besten, wenn man durch seine Andacht die Hand der Vorsicht öffnen kann, daß sie uns Schätze zuwirft.

LORCHEN. Ich wollte auch nicht dafür stehen, daß die Frau Mariane nicht des Tages drei bis vier Stunden von ihrer Hausandacht eingehen lassen sollte, wenn ihr das kleinste Kapital verloren ginge ... Ich höre sie schon reden. Wenn sie wüßte, daß wir von ihrer Andacht sprächen, sie schenkte uns doch ein Gebetbuch.[455]

 

Fünfter Auftritt

Frau Richardin. Die Vorigen.

 

FRAU RICHARDIN. Die ehrliche Frau ist in großer Not. Sie hat fünf unerzogene Kinder und in keiner Hand nichts als Armut. Ich weiß nicht, wie die Leute denken. Nichts zu haben, und doch so viel Kinder ... Ich mag nicht reden.