Der Platz vor dem Haus war schon erleuchtet, ein endloser Strom von Autos fuhr vorbei, denn Grosvenor Square war die Hauptverbindung zwischen Oxford Street und Piccadilly.
Allmählich brach die Nacht an, Sterne tauchten am Himmel auf, in den die Dächer und Türme der Stadt in magischer Beleuchtung ragten. Eunice war bezaubert von der Schönheit der Nacht, und sie dachte daran, daß in dieser großen, nächtlichen Stadt ein Mann lebte, der jetzt vielleicht an sie dachte. Deutlich sah sie ihn vor sich.
Mit einem Seufzer schloß sie die Balkontür und zog die schweren Vorhänge zu. Fünf Minuten später lag sie in tiefem Schlaf.
Wie lange sie geschlafen hatte, wußte sie nicht, aber es mußten Stunden gewesen sein. Der lebhafte Verkehr auf der Straße und die Geräusche der Großstadt waren verstummt, nur ab und zu hörte sie eine Hupe. Obwohl es völlig dunkel war, hatte sie das sichere Gefühl, daß sich jemand im Zimmer befand.
Sie setzte sich aufrecht. Jemand war im Zimmer! Sie schauderte. Vorsichtig tastete sie nach der Stehlampe und hätte beinahe einen Schreckensschrei ausgestoßen - auf dem Nachttisch lag eine kalte, kleine Hand, die bei der Berührung rasch zurückgezogen wurde. Eunice war gelähmt vor Entsetzen. Dann hörte sie das Rauschen des Vorhangs und sah eine Sekunde lang den Schatten einer Gestalt am Fenster. Sie zitterte am ganzen Körper, doch riß sie sich zusammen, sprang aus dem Bett und drehte das Licht an. Das Zimmer war leer, die Balkontür angelehnt.
Auf dem kleinen Tischchen beim Bett fand sie eine graue Karte. Zitternd nahm sie sie in die Hand und las: Jemand, der Sie liebt, bittet Sie um Ihrer Sicherheit und Ihres Rufes willen dringend, dieses Haus so bald als möglich zu verlassen.
Statt der Unterschrift - eine kleine, blaue Hand!
Sie ließ die Karte auf die Bettdecke fallen und starrte darauf. Nach einer Weile nahm sie ihren Morgenrock, schloß die Tür auf und trat in den Gang hinaus. Bei der Treppe brannte ein schwaches Licht. Das Haus lag in völliger Stille. Noch außer sich vor Angst und Schrecken, rannte Eunice die Treppe hinunter. Sie mußte jemanden finden, ein wirkliches Wesen, das kein Spuk war. In der Halle brannte die große Lampe und beleuchtete eine altmodische Uhr. Daß es eine Uhr war, kam Eunice erst zum Bewußtsein, als sie das feierliche Ticken hörte. Drei Uhr - aber vielleicht war doch noch jemand im Hause wach. Sie eilte einen Gang entlang bis zu einer Tür, die sie für den Zugang zu den Dienstbotenräumen hielt. Sie öffnete und kam in einen verlassenen Korridor, der nur schwach beleuchtet war und zu einer weißen Tür führte. Es war eine merkwürdige Tür, die keine Klinke hatte und sich nicht öffnen ließ.
Entsetzt blieb Eunice stehen, denn hinter der Tür hörte sie einen langgezogenen Schmerzensschrei, der so gräßlich die Stille zerriß, daß sie von neuer Angst gepackt floh, zurück durch die Gänge, die Halle, zur Haustür. Zitternd drehte sie den Schlüssel, das Schloß schnappte, und die Tür sprang auf. Sie lief auf die breite Treppe hinaus. Auf der obersten Stufe saß ein Mann.
Er drehte sich um, als er das Geräusch der Tür hörte. Im Licht, das aus der Halle drang, erkannte sie ihn - Jim Steele!
Jim sprang auf und starrte verblüfft auf die unerwartete Erscheinung. Einen Augenblick lang standen sie sich schweigend gegenüber.
»Jim - Mr. Steele!« - stammelte Eunice atemlos.
»Was ist geschehen?« fragte er erschrocken.
Sie zitterte und legte ihre Stirn an seine Schulter.
»Ach, es ist schrecklich, ganz schrecklich!« flüsterte sie.
»Darf ich fragen, was dies alles zu bedeuten hat?« fragte eine Stimme hinter ihnen.
Sie drehten sich um.
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