Wenn doch nur Lady Mary in London gewesen wäre!
Er fuhr zum Haus am Grosvenor Square und wurde sofort in Digbys Arbeitszimmer geführt.
»Wie geht es Ihnen, Mr. Steele? Nehmen Sie bitte Platz. Hier sitzt man viel bequemer als unter dem Tisch! Was kann ich für Sie tun?«
»Ich möchte Miss Weldon sehen.«
»Ich glaube, sie ist ausgegangen, aber ich will einmal nachsehen lassen.«
Er klingelte. Das Mädchen, das erschien, versicherte, Eunice sei nicht zu Hause.
»Nun gut«, sagte Jim, nahm seinen Hut und verabschiedete sich. »Ich werde draußen warten, bis sie zurückkommt.«
»Sie besitzen eine bewundernswürdige Dickköpfigkeit«, murmelte Digby. »Warten Sie, vielleicht kann ich sie doch finden!«
Nach einigen Minuten kam er mit Eunice zurück.
»Das Mädchen wußte nicht richtig Bescheid - Miss Weldon ist nicht ausgegangen.« Er machte eine kurze, höfliche Verbeugung und verließ den Raum.
Eunice legte die Hände auf den Rücken.
»Sie wollten mich sprechen, Mr. Steele?«
Ihre abweisende Haltung brachte ihn aus dem Konzept. Die zurechtgelegten Argumente, die sie überzeugen sollten, schwammen ihm weg.
»Bitte, verlassen Sie dieses Haus, Eunice!«
»Haben Sie wieder einen neuen Grund gefunden?« fragte sie ironisch.
»Ich habe den besten Grund - ich weiß jetzt, daß Sie die Tochter Lady Mary Dantons sind ...«
»Das haben Sie mir früher auch schon erzählt.«
»Bitte, hören Sie auf mich!« bat er. »Ich kann Ihnen den Beweis bringen, daß Sie es sind. Die Narbe am Handgelenk hat Ihnen Digby Groat beigebracht, als Sie noch ein kleines Kind waren. Es gibt keine Eunice Weldon - das Mädchen, das diesen Namen trug, ist im Alter von einem Jahr in Kapstadt gestorben!«
Sie sah ihn an, ziemlich kühl, und sein Mut sank.
»Das ist ja eine äußerst romantische Geschichte! Haben Sie mir vielleicht sonst noch etwas zu sagen?«
»Nur noch, daß die Dame, die Sie in meiner Wohnung gesehen haben, Ihre Mutter ist.«
Ihre Augen wurden groß, einen Moment lang lächelte sie.
»Wirklich, Jim, Sie sollten Geschichten schreiben! Und wenn es Sie interessiert, kann ich Ihnen ja sagen, daß ich dieses Haus in ein paar Tagen verlasse, um meine alte Stelle wieder anzunehmen. Sie brauchen mir gar nicht zu erklären, wer die Dame ist, die kein Telefon, aber den Schlüssel zu Ihrer Wohnung besitzt. Ich will Ihnen nur sagen, daß Sie meinen Glauben an die Männer mehr erschüttert haben, als Digby Groat oder irgendein anderer es je fertiggebracht hätte!« Ihr Ärger betäubte alle Sympathie, die sie trotz allem für Jim empfand. »Leben Sie wohl!« Mit diesen Worten verließ sie das Zimmer.
Er stand verwirrt und betäubt da, sprachlos über ihre Ungerechtigkeit. Er spürte Ärger und Zorn in sich aufsteigen, aber er überwand sich. Jetzt konnte er gehen.
25
Eine Entscheidung lag in der Luft. Digby Groat war viel zu vorsichtig, um die Anzeichen nicht zu verstehen. Seit zwei Jahren stand er in Verhandlungen mit einem Landagenten in Sáo Paulo und hatte den Kauf einer großen Plantage soweit gefördert, daß er jeden Augenblick abschließen konnte. Durch allerhand Machinationen hatte er die Identität seiner Person als Käufer verschleiert. Es war möglich, daß er fliehen mußte, dann wollte er auf diesen großen Ländereien in Südamerika ein neues, herrliches Leben führen. Und er war entschlossen, Eunice Weldon mit sich zu nehmen. Er wollte sie, besonders nach dem gestrigen Besuch dieses Steele, nicht mehr aus den Augen lassen.
Für Jim gingen die Morgenstunden dieses Tages zu langsam vorüber. Der Geschäftsführer aus Liverpool sollte um ein Uhr ankommen, und Jim wartete pünktlich um diese Zeit im Londoner Büro der Schiffahrtsgesellschaft auf ihn. Der Zug mußte Verspätung gehabt haben, denn es war schon nach zwei, als der Ersehnte ankam. Ein Träger mit einem großen Paket begleitete ihn. Jim wurde sofort ins Privatbüro gebeten.
»Wir haben das Logbuch der Battledore gefunden, aber nun habe ich das Datum vergessen.«
»Es war der21.Juni 1911.«
Das Logbuch lag offen auf dem großen Tisch. Eine eigentümlich gespannte Atmosphäre herrschte in dem alten Büro.
»Hier!« sagte der Partner, der gestern schon die Unterhaltung bestritten hatte. »Die Battledore verließ Tilbury um neun Uhr vormittags bei abnehmender Flut, Wind Ost-Süd-Ost, See ruhig, etwas neblig.« Er las für sich weiter. »Ich glaube, jetzt kommt das, was Sie brauchen!« Es war ein dramatischer Augenblick für Jim. Nach einigen einleitenden Worten kam der alte Herr zu der entscheidenden Eintragung. »Schwere Nebelbänke, Geschwindigkeit um 11.50 Uhr auf die Hälfte reduziert.
1 comment