Wenn man sich nach
diesem Treiben hinab beugt, so belauscht man gleichsam die geheime
Bildungsgeschichte der Pflanzen und das ruhige Herzklopfen des
Berges. An manchen Orten sprudelt das Wasser aus den Steinen und
Wurzeln stärker hervor und bildet kleine Kaskaden. Da läßt sich gut
sitzen. Es murmelt und rauscht so wunderbar, die Vögel singen
abgebrochene Sehnsuchtslaute, die Bäume flüstern wie mit tausend
Mädchenzungen, wie mit tausend Mädchenaugen schauen uns an die
seltsamen Bergblumen, sie strecken nach uns aus die wundersam
breiten, drollig gezackten Blätter, spielend flimmern hin und her
die lustigen Sonnenstrahlen, die sinnigen Kräutlein erzählen sich
grüne Märchen, es ist alles wie verzaubert, es wird immer
heimlicher und heimlicher, ein uralter Traum wird lebendig, die
Geliebte erscheint -- ach, daß sie so schnell wieder
verschwindet!
Je höher man den Berg hinaufsteigt, desto kürzer, zwerghafter
werden die Tannen, sie scheinen immer mehr und mehr zusammen zu
schrumpfen, bis nur Heidelbeer- und Rotbeersträuche und Bergkräuter
übrig bleiben. Da wird es auch schon fühlbar kälter. Die
wunderlichen Gruppen der Granitblöcke werden hier erst recht
sichtbar; diese sind oft von erstaunlicher Größe. Das mögen wohl
die Spielbälle sein, die sich die bösen Geister einander zuwerfen
in der Walpurgisnacht, wenn hier die Hexen auf Besenstielen und
Mistgabeln einhergeritten kommen, und die abenteuerlich verruchte
Lust beginnt, wie die glaubhafte Amme es erzählt, und wie es zu
schauen ist auf den hübschen Faustbildern des Meister Retzsch. Ja,
ein junger Dichter, der auf einer Reise von Berlin nach Göttingen
in der ersten Mainacht am Brocken vorbei ritt, bemerkte sogar, wie
einige belletristische Damen auf einer Bergecke ihre ästhetische
Theegesellschaft hielten, sich gemütlich die »Abendzeitung«
vorlasen, ihre poetischen Ziegenböckchen, die meckernd den
Theetisch umhüpften, als Universalgenies priesen, und über alle
Erscheinungen in der deutschen Litteratur ihr Endurteil fällten;
doch als sie auch auf den »Ratcliff« und »Almansor« gerieten, und
dem Verfasser alle Frömmigkeit und Christlichkeit absprachen, da
sträubte sich das Haar des jungen Mannes, Entsetzen ergriff ihn, --
ich gab dem Pferde die Sporen und jagte vorüber.
In der That, wenn man die obere Hälfte des Brockens besteigt,
kann man sich nicht erwehren, an die ergötzlichen
Blocksberggeschichten zu denken, und besonders an die große
mystische deutsche Nationaltragödie vom Doktor Faust. Mir war
immer, als ob der Pferdefuß neben mir hinauf klettere, und jemand
humoristisch Atem schöpfe. Und ich glaube, auch Mephisto muß mit
Mühe Atem holen, wenn er seinen Lieblingsberg ersteigt; es ist ein
äußerst erschöpfender Weg, und ich war froh, als ich endlich das
langersehnte Brockenhaus zu Gesicht bekam.
Dieses Haus, das, wie durch vielfache Abbildungen bekannt ist,
bloß aus einem Parterre besteht, und auf der Spitze des Berges
liegt, wurde erst 1800 vom Grafen Stolberg-Wernigerode erbaut, für
dessen Rechnung es auch als Wirtshaus verwaltet wird. Die Mauern
sind erstaunlich dick, wegen des Windes und der Kälte im Winter;
das Dach ist niedrig, in der Mitte desselben steht eine turmartige
Warte, und bei dem Hause liegen noch zwei kleine Nebengebäude,
wovon das eine in frühern Zeiten den Brockenbesuchern zum Obdach
diente.
Der Eintritt in das Brockenhaus erregte bei mir eine etwas
ungewöhnliche, märchenhafte Empfindung. Man ist nach einem langen,
einsamen Umhersteigen durch Tannen und Klippen plötzlich in ein
Wolkenhaus versetzt; Städte, Berge und Wälder blieben unten liegen,
und oben findet man eine wunderlich zusammengesetzte, fremde
Gesellschaft, von welcher man, wie es an dergleichen Orten
natürlich ist, fast wie ein erwarteter Genosse, halb neugierig und
halb gleichgiltig, empfangen wird. Ich fand das Haus voller Gäste,
und, wie es einem klugen Manne geziemt, dachte ich schon an die
Nacht, an die Unbehaglichkeit eines Strohlagers; mit hinsterbender
Stimme verlangte ich gleich Thee, und der Herr Brockenwirt war
vernünftig genug, einzusehen, daß ich kranker Mensch für die Nacht
ein ordentliches Bett haben müsse. Dieses verschaffte er mir in
einem engen Zimmerchen, wo schon ein junger Kaufmann, ein langes
Brechpulver in einem braunen Oberrock, sich etabliert hatte.
In der Wirtsstube fand ich lauter Leben und Bewegung. Studenten
von verschiedenen Universitäten. Die einen sind kurz vorher
angekommen und restaurieren sich, andere bereiten sich zum
Abmarsch, schnüren ihre Ranzen, schreiben ihre Namen ins
Gedächtnisbuch, erhalten Brockensträuße von den Hausmädchen; da
wird in die Wangen gekniffen, gesungen, gesprungen, gejohlt, man
fragt, man antwortet, gut Wetter, Fußweg, Prosit, Adieu. Einige der
Abgehenden sind auch etwas angesoffen, und diese haben von der
schönen Aussicht einen doppelten Genuß, da ein Betrunkener alles
doppelt sieht.
Nachdem ich mich ziemlich rekreiert, bestieg ich die Turmwarte,
und fand daselbst einen kleinen Herrn mit zwei Damen, einer jungen
und einer ältlichen. Die junge Dame war sehr schön. Eine herrliche
Gestalt, auf dem lockigen Haupte ein helmartiger, schwarzer
Atlashut, mit dessen weißen Federn die Winde spielten, die
schlanken Glieder von einem schwarzseidenen Mantel so fest
umschlossen, daß die edlen Formen hervortraten, und das freie,
große Auge, ruhig hinabschauend in die freie, große Welt.
Als ich noch ein Knabe war, dachte ich an nichts als an Zauber
und Wundergeschichten, und jede schöne Dame, die Straußfedern auf
dem Kopfe trug, hielt ich für eine Elfenkönigin, und bemerkte ich
gar, daß die Schleppe ihres Kleides naß war, so hielt ich sie für
eine Wassernixe. Jetzt denke ich anders, seit ich aus der
Naturgeschichte weiß, daß jene symbolischen Federn von dem dümmsten
Vogel herkommen, und daß die Schleppe eines Damenkleides auf sehr
natürliche Weise naß werden kann. Hätte ich mit jenen Knabenaugen
die erwähnte junge Schöne in erwähnter Stellung auf dem Brocken
gesehen, so würde ich sicher gedacht haben: Das ist die Fee des
Berges, und sie hat eben den Zauber ausgesprochen, wodurch dort
unten alles so wunderbar erscheint. Ja, in hohem Grade wunderbar
erscheint uns alles beim ersten Hinabschauen vom Brocken, alle
Seiten unseres Geistes empfangen neue Eindrücke, und diese,
meistens verschiedenartig, sogar sich widersprechend, verbinden
sich in unserer Seele zu einem großen, noch unentworrenen,
unverstandenen Gefühl. Gelingt es uns, dieses Gefühl in seinem
Begriff zu erfassen, so erkennen wir den Charakter des Berges.
Dieser Charakter ist ganz deutsch, sowohl in Hinsicht seiner
Fehler, also auch seiner Vorzüge. Der Brocken ist ein Deutscher.
Mit deutscher Gründlichkeit zeigt er uns klar und deutlich, wie ein
Riesenpanorama, die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer,
die meistens nördlich liegen, und ringsum alle Berge, Wälder,
Flüsse, Flächen, unendlich weit. Aber eben dadurch erscheint alles
wie eine scharfgezeichnete, rein illuminierte Specialkarte,
nirgends wird das Auge durch eigentliche schöne Landschaften
erfreut; wie es denn immer geschieht, daß wir deutschen
Kompilatoren wegen der ehrlichen Genauigkeit, womit wir alles und
alles hingeben wollen, nie daran denken können, das einzelne auf
eine schöne Weise zu geben. Der Berg hat auch so etwas
Deutschruhiges, Verständiges, Tolerantes; eben weil er die Dinge so
weit und klar überschauen kann. Und wenn solch ein Berg seine
Riesenaugen öffnet, mag er wohl noch etwas mehr sehen, als wir
Zwerge, die wir mit unsern blöden Äuglein auf ihm herum klettern.
Viele wollen zwar behaupten, der Brocken sei sehr philiströse, und
Claudius sang: »Der Blocksberg ist der lange Herr Philister!« Aber
das ist Irrtum. Durch seinen Kahlkopf, den er zuweilen mit einer
weißen Nebelkappe bedeckt, giebt er sich zwar den Anstrich von
Philiströsität; aber, wie bei manchen andern großen Deutschen,
geschieht es aus purer Ironie. Es ist sogar notorisch, daß der
Brocken seine burschikosen, phantastischen Zeiten hat, z. B.
die erste Mainacht. Dann wirft er seine Nebelkappe jubelnd in die
Lüfte, und wird, eben so gut wie wir Übrigen, recht echtdeutsch
romantisch verrückt.
Ich suchte gleich die schöne Dame in ein Gespräch zu
verflechten; denn Naturschönheiten genießt man erst recht, wenn man
sich auf der Stelle darüber aussprechen kann.
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