Plötzlich aber höre ich bekannte
Stimmen, und fühle mich umarmt und geküßt. Es waren meine
Landsleute, die Göttingen vier Tage später verlassen hatten, und
bedeutend erstaunt waren, mich ganz allein auf dem Blocksberge
wieder zu finden. Da gab es ein Erzählen und Verwundern und
Verabreden, ein Lachen und Erinnern, und im Geiste waren wir wieder
in unserm gelehrten Sibirien, wo die Kultur so groß ist, daß die
Bären in den Wirtshäusern angebunden werden, und die Zobel dem
Jäger guten Abend wünschen.
Im großen Zimmer wurde eine Abendmahlzeit gehalten. Ein langer
Tisch mit zwei Reihen hungriger Studenten. Im Anfange gewöhnliches
Universitätsgespräch: Duelle, Duelle und wieder Duelle. Die
Gesellschaft bestand meistens aus Hallensern, und Halle wurde daher
Hauptgegenstand der Unterhaltung. Die Fensterscheiben des Hofrats
Schütz wurden exegetisch beleuchtet. Dann erzählte man, daß die
letzte Kur bei dem König von Cypern sehr glänzend gewesen sei, daß
er einen natürlichen Sohn erwählt, daß er sich eine
Lichtensteinsche Prinzessin ans linke Bein antrauen lassen, daß er
die Staatsmaitresse abgedankt, und daß das ganze gerührte
Ministerium vorschriftsmäßig geweint habe. Ich brauche wohl nicht
zu erwähnen, daß sich dieses auf Halle'sche Bierwürden bezieht.
Hernach kamen die zwei Chinesen aufs Tapet, die sich vor zwei
Jahren in Berlin sehen ließen, und jetzt in Halle zu Privatdocenten
der chinesischen Ästhetik abgerichtet werden. Nun wurden Witze
gerissen. Man setzte den Fall, ein Deutscher ließe sich in China
für Geld sehen; und zu diesem Zwecke wurde ein Anschlagzettel
geschmiedet, worin die Mandarinen Tsching-Tschang-Tschung und
Hi-Ha-Ho begutachteten, daß es ein echter Deutscher sei, worin
ferner seine Kunststücke aufgerechnet wurden, die hauptsächlich in
Philosophieren, Tabakrauchen und Geduld bestanden, und worin noch
schließlich bemerkt wurde, daß man um zwölf Uhr, welches die
Fütterungsstunde sei, keine Hunde mitbringen dürfe, indem diese dem
armen Deutschen die besten Brocken weg zu schnappen pflegten.
Ein junger Burschenschafter, der kürzlich zur Purifikation in
Berlin gewesen, sprach viel von dieser Stadt, aber sehr einseitig.
Er hatte Wisotzki und das Theater besucht; beide beurteilte er
falsch. »Schnell fertig ist die Jugend mit dem Wort«
u. s. w. Er sprach von Garderobeaufwand, Schauspieler-
und Schauspielerinnenskandal u. s. w. Der junge Mann
wußte nicht, daß, da in Berlin überhaupt der Schein der Dinge am
meisten gilt, was schon die allgemeine Redensart »man so duhn«
hinlänglich andeutet, dieses Scheinwesen auf den Brettern erst
recht florieren muß, und daß daher die Intendanz am meisten zu
sorgen hat für die »Farbe des Barts, womit eine Rolle gespielt
wird«, für die Treue der Kostüme, die von beeidigten Historikern
vorgezeichnet und von wissenschaftlich gebildeten Schneidern genäht
werden. Und das ist notwendig. Denn trüge mal Maria Stuart eine
Schürze, die schon zum Zeitalter der Königin Anna gehört, so würde
gewiß der Bankier Christian Gumpel sich mit Recht beklagen, daß ihm
dadurch alle Illusion verloren gehe; und hätte mal Lord Burleigh
aus Versehen die Hose von Heinrich IV. angezogen, so würde
gewiß die Kriegsrätin von Steinzopf, geb. Lilientau, diesen
Anachronismus den ganzen Abend nicht aus den Augen lassen. Solche
täuschende Sorgfalt der Generalintendanz erstreckt sich aber nicht
bloß auf Schürzen und Hosen, sondern auch auf die darin
verwickelten Personen. So soll künftig der Othello von einem
wirklichen Mohren gespielt werden, den Professor Lichtenstein schon
zu diesem Behufe aus Afrika verschrieben hat; in »Menschenhaß und
Reue« soll künftig die Eulalia von einem wirklich verlaufenen
Weibsbilde, der Peter von einem wirklich dummen Jungen, und der
Unbekannte von einem wirklich geheimen Hahnrei gespielt werden, die
man alle drei nicht erst aus Afrika zu verschreiben braucht. In der
»Macht der Verhältnisse« soll ein wirklicher Schriftsteller, der
schon mal ein paar Maulschellen bekommen, die Rolle des Helden
spielen; in der »Ahnfrau« soll der Künstler, der den Jaromir giebt,
schon wirklich einmal geraubt oder doch wenigstens gestohlen haben;
die Lady Macbeth soll von einer Dame gespielt werden, die zwar, wie
es Tieck verlangt, von Natur sehr liebevoll, aber doch mit dem
blutigen Anblick eines meuchelmörderischen Abstechens einigermaßen
vertraut ist; und endlich, zur Darstellung gar besonders seichter,
witzloser, pöbelhafter Gesellen soll der große Wurm engagiert
werden, der große Wurm, der seine Geistesgenossen jedesmal
entzückt, wenn er sich erhebt in seiner wahren Größe, hoch, hoch,
»jeder Zoll ein Lump!« -- Hatte nun obenerwähnter junger Mensch die
Verhältnisse des Berliner Schauspiels schlecht begriffen, so merkte
er noch viel weniger, daß die Spontini'sche Janitscharenoper,
mit ihren Pauken, Elephanten, Trompeten und Tamtams, ein heroisches
Mittel ist, um unser erschlafftes Volk kriegerisch zu stärken, ein
Mittel, das schon Plato und Cicero staatspfiffig empfohlen haben.
Am allerwenigsten begriff der junge Mensch die diplomatische
Bedeutung des Ballets. Mit Mühe zeigte ich ihm, wie in Hoguets
Füßen mehr Politik sitzt als in Buchholz' Kopf, wie alle seine
Tanztouren diplomatische Verhandlungen bedeuten, wie jede seiner
Bewegungen eine politische Beziehung habe, so z. B. daß er
unser Kabinett meint, wenn er, sehnsüchtig vorgebeugt, mit den
Händen weitausgreift, daß er den Bundestag meint, wenn er sich
hundertmal auf einem Fuße herumdreht, ohne vom Fleck zu kommen, daß
er die kleinen Fürsten im Sinne hat, wenn er wie mit gebundenen
Beinen herumtrippelt, daß er das europäische Gleichgewicht
bezeichnet, wenn er wie ein Trunkener hin und her schwankt, daß er
einen Kongreß andeutet, wenn er die gebogenen Arme knäuelartig in
einander verschlingt, und endlich, daß er unsern allzugroßen Freund
im Osten darstellt, wenn er in allmählicher Entfaltung sich in die
Höhe hebt, in dieser Stellung lange ruht, und plötzlich in die
erschrecklichsten Sprünge ausbricht. Dem jungen Manne fielen die
Schuppen von den Augen, und jetzt merkte er, warum Tänzer besser
honoriert werden, als große Dichter, warum das Ballet beim
diplomatischen Korps ein unerschöpflicher Gegenstand des Gesprächs
ist, und warum oft eine schöne Tänzerin noch privatim von dem
Minister unterhalten wird, der sich gewiß Tag und Nacht abmüht, sie
für sein politisches Systemchen empfänglich zu machen. Beim Apis!
wie groß ist die Zahl der exoterischen, und wie klein die Zahl der
esoterischen Theaterbesucher! Da steht das blöde Volk und gafft,
und bewundert Sprünge und Wendungen, und studiert Anatomie in den
Stellungen der Lemiere, und applaudiert die Entrechats der
Röhnisch, und schwatzt von Grazie, Harmonie und Lenden -- und
Keiner merkt, daß er in getanzten Chiffern das Schicksal des
deutschen Vaterlandes vor Augen hat.
Während solcherlei Gespräche hin und her flogen, verlor man doch
das Nützliche nicht aus den Augen und den großen Schüsseln, die mit
Fleisch, Kartoffeln u. s. w. ehrlich angefüllt waren,
wurde fleißig zugesprochen. Jedoch war das Essen schlecht. Dies
erwähnte ich leichthin gegen meinen Nachbar, der aber mit einem
Accente, woran ich den Schweizer erkannte, gar unhöflich
antwortete, daß wir Deutschen, wie mit der wahren Freiheit, so auch
mit der wahren Genügsamkeit unbekannt seien. Ich zuckte die Achseln
und bemerkte, daß die eigentlichen Fürstenknechte und
Leckerkramverfertiger überall Schweizer sind und vorzugsweise so
genannt werden, und daß überhaupt die jetzigen schweizerischen
Freiheitshelden, die so viel Politisch-Kühnes ins Publikum
hineinschwatzen, mir immer vorkommen wie Hasen, die auf
öffentlichen Jahrmärkten Pistolen abschießen, alle Kinder und
Bauern durch ihre Kühnheit in Erstaunen setzen, und dennoch Hasen
sind.
Der Sohn der Alpen hatte es gewiß nicht böse gemeint, »es war
ein dicker Mann, folglich ein guter Mann,« sagt Cervantes. Aber
mein Nachbar von der andern Seite, ein Greifswalder, war durch jene
Äußerung sehr pikiert; er beteuerte, daß deutsche Thatkraft und
Einfältigkeit noch nicht erloschen sei, schlug sich dröhnend auf
die Brust, und leerte eine ungeheure Stange Weißbier.
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