Wenn ich jetzt dieses Wort höre,
so sehe ich noch immer den Doktor Saul Ascher mit seinen abstrakten
Beinen, mit seinem engen, transcendentalgrauen Leibrock, und mit
seinem schroffen, frierend kalten Gesichte, das einem Lehrbuche der
Geometrie als Kupfertafel dienen konnte. Dieser Mann, tief in den
Fünfzigen, war eine personificierte grade Linie. In seinem Streben
nach dem Positiven hatte der arme Mann sich alles Herrliche aus dem
Leben heraus philosophiert, alle Sonnenstrahlen, allen Glauben und
alle Blumen, und es blieb ihm nichts übrig, als das kalte positive
Grab. Auf den Apoll von Belvedere und auf das Christentum hatte er
eine spezielle Malice. Gegen letzteres schrieb er sogar eine
Broschüre, worin er dessen Unvernünftigkeit und Unhaltbarkeit
bewies. Er hat überhaupt eine ganze Menge Bücher geschrieben, worin
immer die Vernunft von ihrer eigenen Vortrefflichkeit renommiert,
und wobei es der arme Doktor gewiß ernsthaft genug meinte, und also
in dieser Hinsicht alle Achtung verdiente. Darin aber bestand ja
eben der Hauptspaß, daß er ein so ernsthaft närrisches Gesicht
schnitt, wenn er dasjenige nicht begreifen konnte, was jedes Kind
begreift, eben weil es ein Kind ist. Einigemal besuchte ich auch
den Vernunftdoktor in seinem eigenen Hause, wo ich schöne Mädchen
bei ihm fand; denn die Vernunft verbietet nicht die Sinnlichkeit.
Als ich ihn einst ebenfalls besuchen wollte, sagte mir sein
Bedienter: »Der Herr Doktor ist eben gestorben.« Ich fühlte nicht
viel mehr dabei, als wenn er gesagt hätte: Der Herr Doktor ist
ausgezogen.
Doch zurück nach Goslar. »Das höchste Prinzip ist die Vernunft!«
sagte ich beschwichtigend zu mir selbst, als ich ins Bett stieg.
Indessen, es half nicht. Ich hatte eben in Varnhagen von Ense's
»Deutsche Erzählungen«, die ich von Klausthal mitgenommen hatte,
jene entsetzliche Geschichte gelesen, wie der Sohn, den sein
eigener Vater ermorden wollte, in der Nacht von dem Geiste seiner
toten Mutter gewarnt wird. Die wunderbare Darstellung dieser
Geschichte bewirkte, daß mich während des Lesens ein inneres Grauen
durchfröstelte. Auch erregen Gespenstererzählungen ein noch
schauerlicheres Gefühl, wenn man sie auf der Reise liest, und zumal
des Nachts, in einer Stadt, in einem Hause, in einem Zimmer, wo man
noch nie gewesen. Wie viel Gräßliches mag sich schon zugetragen
haben auf diesem Flecke, wo du eben liegst? so denkt man
unwillkürlich. Überdies schien der Mond so zweideutig ins Zimmer
herein, an der Wand bewegten sich allerlei unberufene Schatten, und
als ich mich im Bett aufrichtete, um hin zu sehen, erblickte
ich --
Es giebt nichts Unheimlicheres, als wenn man bei Mondschein das
eigene Gesicht zufällig im Spiegel sieht. In demselben Augenblicke
schlug eine schwerfällige, gähnende Glocke, und zwar so lang und
langsam, daß ich nach dem zwölften Glockenschlage sicher glaubte,
es seien unterdessen volle zwölf Stunden verflossen, und es müßte
wieder von vorn anfangen, Zwölf zu schlagen. Zwischen dem
vorletzten und letzten Glockenschlage schlug noch eine andere Uhr,
sehr rasch, fast keifend gell, und vielleicht ärgerlich über die
Langsamkeit ihrer Frau Gevatterin. Als beide eiserne Zungen
schwiegen, und tiefe Totenstille im ganzen Hause herrschte, war es
mir plötzlich, als hörte ich auf dem Korridor vor meinem Zimmer
etwas schlottern und schlappen, wie der unsichere Gang eines alten
Mannes. Endlich öffnete sich meine Thür, und langsam trat herein
der verstorbene Doktor Saul Ascher. Ein kaltes Fieber rieselte mir
durch Mark und Bein, ich zitterte wie Espenlaub, und kaum wagte ich
das Gespenst anzusehen. Er sah aus wie sonst, derselbe
transcendentalgraue Leibrock, dieselben abstrakten Beine, und
dasselbe mathematische Gesicht; nur war dieses etwas gelblicher als
sonst, auch der Mund, der sonst zwei Winkel von 22 1/2 Grad
bildete, war zusammengekniffen, und die Augenkreise hatten einen
größeren Radius. Schwankend und wie sonst sich auf sein spanisches
Röhrchen stützend, näherte er sich mir, und in seinem gewöhnlichen
mundfaulen Dialekte sprach er freundlich: »Fürchten Sie sich nicht
und glauben Sie nicht, daß ich ein Gespenst sei. Es ist Täuschung
Ihrer Phantasie, wenn Sie mich als Gespenst zu sehen glauben. Was
ist ein Gespenst? Geben Sie mir eine Definition? Deducieren Sie mir
die Bedingungen der Möglichkeit eines Gespenstes? In welchem
vernünftigen Zusammenhang stände eine solche Erscheinung mit der
Vernunft? Die Vernunft, ich sage die Vernunft.« -- Und nun schritt
das Gespenst zu einer Analyse der Vernunft, citierte Kants »Kritik
der reinen Vernunft«, zweiter Theil, erster Abschnitt, zweites
Buch, drittes Hauptstück, die Unterscheidung von Phänomena und
Noumena, konstruierte alsdann den problematischen
Gespensterglauben, setzte einen Syllogismus auf den andern, und
schloß mit dem logischen Beweise, daß es durchaus keine Gespenster
giebt. Mir unterdessen lief der kalte Schweiß über den Rücken,
meine Zähne klapperten wie Kastagnetten, aus Seelenangst nickte ich
unbedingte Zustimmung bei jedem Satz, womit der spukende Doktor die
Absurdität aller Gespensterfurcht bewies, und derselbe
demonstrierte so eifrig, daß er einmal in der Zerstreuung, statt
seiner goldnen Uhr, eine Handvoll Würmer aus der Uhrtasche zog,
und, seinen Irrtum bemerkend, mit possierlich ängstlicher
Hastigkeit wieder einsteckte. »Die Vernunft ist das
höchste --« da schlug die Glocke Eins, und das Gespenst
verschwand.
Von Goslar ging ich den andern Morgen weiter, halb auf
Geratewohl, halb in der Absicht, den Bruder des Klausthaler
Bergmanns aufzusuchen. Wieder schönes, liebes Sonntagswetter. Ich
bestieg Hügel und Berge, betrachtete, wie die Sonne den Nebel zu
verscheuchen suchte, wanderte freudig durch die schauernden Wälder,
und um mein träumendes Haupt klingelten die Glockenblümchen von
Goslar. In ihren weißen Nachtmänteln standen die Berge, die Tannen
rüttelten sich den Schlaf aus den Gliedern, der frische Morgenwind
frisierte ihnen die herabhängenden, grünen Haare, die Vöglein
hielten Betstunde, das Wiesenthal blitzte wie eine diamantenbesäete
Golddecke, und der Hirt schritt darüber hin mit seiner läutenden
Herde. Ich mochte mich wohl eigentlich verirrt haben. Man schlägt
immer Seitenwege und Fußsteige ein, und glaubt dadurch näher zum
Ziele zu gelangen.
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