Der unglückliche Mann malte es sich in grausamer Selbstqual aus, wie schön es wäre, wenn er mit dem Eidam und der Tochter nach Hause ginge und nun daheim die Enkel jubelnd den Großvater empfingen. Jedes Kinderlachen, jeder Willkommgruß ging wie ein Schwert durch sein Herz. Ach, er war doch vielleicht nicht allzusehr zu verdammen, wenn er da innehielt und dumpf und leise vor sich hinsprach: »Wenn Gott gerecht ist, dann wird er den treffen, der das Herz meines Kindes bethört hat, und den, der sein Ohr geöffnet hat für das Wort des Verführers!«

Da fühlte er seine Schulter berührt und wandte sich um und wich dann entsetzt zurück, als hätte er ein Gespenst erblickt. Seine Brust keuchte, seine Augen glühten, seine Hand ballte sich zur Faust. Vor ihm stand der Mann, dem er geflucht, ein kranker, greiser, gebrochener Mann – Schlome, der »Meschumed«.

»Ich muß Euch sprechen!« sagte er zu Moses, »ich habe einen Brief ...«

Aber dieser zuckte wild auf in Zorn und Schmerz: »Schweigt, Elender! Ich will nichts hören! ...«

Die Leute sammelten sich um die beiden Männer.

Der Meschumed trat näher heran und wiederholte: »Ich muß Euch sprechen. Beschimpft mich, aber hört mich. Sie ist ...«

Aber weiter kam er nicht. Wie ein gehetztes Wild eilte Moses hinweg, durch die engen Gassen und über den Marktplatz, bis er vor seinem Hause stand. Halb ohnmächtig sank er auf die Steinbank am Thore. Hier harrte er, bis sein Atem ruhiger ging, bis seine Pulse minder heftig schlugen. Da war's ihm, als würde irgendwo über ihm sein Name genannt. Im ersten Stockwerk waren die Fenster erleuchtet und weit geöffnet; lautes Lachen klang herab. Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Und nun hörte er's noch einmal, ganz vernehmlich: sein Name, dann eine stürmische Lachsalve. Aber der alte Mann achtete nicht darauf, er ging in seine Stube und schob Speise und Trank, die ihm die alte Dienerin vorsetzte, von sich. »Sie ist tot,« klang es unablässig in seinen Ohren und in seinem Herzen, »gewiß – sie ist tot!« So saß er voll wilder, dunkler, streitender Gedanken in der einsamen, lichterfüllten Stube. Es war sehr still um ihn; nur die vielen Kerzen knisterten leise im Verbrennen und das gab einen traurigen Ton ...

 

*

 

Die Frau Bezirksrichter hatte heute ihren Empfangsabend. Im Nebenzimmer spielten die Herren Whist und Tarock, vielleicht auch ein kleines, harmloses Hazardspielchen. Im Salon saßen die Damen um den großen Theetisch, hielten mächtige Tassen in den Händen, aßen sehr viel Backwerk und unterhielten sich sehr gut. Nur die dicke Frau des dicken Güterdirektors ärgerte sich. Sie hatte sonst, als die Vornehmste in dieser Gesellschaft, den Ton angegeben; für heute war ihr von der Frau des k.k. Hungerleiders, des neuen Aktuars, das Szepter entrissen worden. Denn Frau Emilie kam aus der Hauptstadt, aus Lemberg und hatte die neuesten Moden und Skandalgeschichten mitgebracht. Zum Danke erzählte man ihr die Geschichten des Städtchens, namentlich die der gerade abwesenden Damen. Aber das war nach einiger Zeit erschöpft, es fehlten eben nur wenige. Da kam Frau Emilie auf den glücklichen Einfall, zu fragen, was es denn mit der merkwürdigen Geschichte sei, von der heute der Herr Bezirksrichter ihrem Gatten erzählt habe. »Das kann ich ihnen aus bester Quelle berichten,« erwiderte die Frau Bezirksrichter eifrig. »Wir wohnen schon zwölf Jahre in dem Hause, es ist Alles unter meinen Augen geschehen. Es ist sehr interessant, sogar ein hübscher Husarenoffizier kommt darin vor – so etwas hätten Sie sogar kaum in Lemberg hören können.«

Und sie erzählte: »Also, Sie wissen, es handelt sich um die Esterka, die Tochter des Alten. Als wir hierher zogen, war sie zehn Jahre alt, hübsch groß für dies Alter, mit schwarzen Haaren und großen blauen Augen.