Man bekam sie wenig zu sehen, zu hören war sie fast gar nicht; sie saß den ganzen langen Tag und oft bis in die Nacht hinein über den Büchern. Meine Malvina war beiläufig im gleichen Alter und lud sie häufig ein, mit ihr zu spielen. Aber das kleine, hochmütige Judenmädel wollte nichts davon wissen, so vernarrt war sie ins Lernen. An dieser Narrheit war freilich auch ein närrischer Mensch schuld, ihr Onkel Grünstein. Ein wüster, unheimlicher Mensch, weder Jud' noch Christ, ganz gottlos – man sagt, er soll Tote beschwören können. Wahrhaftig, Tote aus den Gräbern! – das war der Lehrer der Esterka. Er muß sie wirklich saubere Sachen gelehrt haben, nach drei Jahren war sie ebenso närrisch und ebenso gottlos wie er. So war sie zum Beispiel einmal im Hochsommer, im August, an einem sehr schwülen Nachmittage bei uns. Sie war nämlich im Sticken ganz geschickt und half meiner Malvina eine Arbeit fertig machen. Da ziehen sich die Wolken zusammen, ein furchtbares Gewitter bricht los; es donnert, blitzt und hagelt, als sollte die Welt untergehen. Meine Kleine, die Gottlob eine christkatholische Erziehung genossen hat, fängt laut zu beten an, aber die Jüdin bleibt ganz ruhig. ›Esther,‹ frag' ich, ›fürchtest Du Dich nicht vor dem Strafgericht Gottes?‹ – ›Das ist ja das Gewitter gar nicht,‹ erwidert der Naseweis. – ›Nun, und was ist denn der Blitz Anderes?‹ – ›Die Entladung der Elektrizität,‹ ist die Antwort. – ›Also fürchtest Du Dich nicht vor dem Blitz?‹ – ›O ja, weil wir keinen Blitzableiter am Hause haben!‹ Derlei gottlose Reden darf ich aber nicht aufkommen lassen, wenn die Malvina zuhört, darum rufe ich streng: ›Du bist ein gottloses Kind; merke Dir's, der liebe Gott lenkt den Blitz!‹ – ›Warum hat dann,‹ fragt das kecke Ding darauf, ›der Blitz im vorigen Sommer auf freiem Felde den Berisch Katz getroffen, den armen Dorfgeher? Er war ein sehr frommer Mann und seine Kinder hungern jetzt.‹ Darauf sag' ich nichts mehr, aber am nächsten Tag, wie ich dem alten Moses begegne, erzähle ich ihm das ganze Gespräch. ›Das Kind hat schon eine schöne Bildung,‹ meine ich zum Schlusse, ›und wenn es so fortgeht, kann es noch schöner werden.‹ – ›Es wird nicht so fortgehen,‹ erwidert er finster, ›ich war schon lange entschlossen, der Sache ein Ende zu machen und das Gestrige macht das Gefäß überlaufen.‹ Und richtig – er hat Wort gehalten. Alle Bücher nahm er der Esther weg und setzte sie in den Laden, Düten zu drehen und Zucker zu wägen; den Schlome aber jagte er aus dem Hause.
Das war so im Sommer vor neun Jahren. Und im Herbste, an einem Sabbath Nachmittag kommt die Esther zu meiner Tochter und bittet und weint und fleht, man möge ihr ein deutsches Buch leihen, sonst müsse sie sterben. Denn der Alte hatte ihr alle Bücher weggenommen und hielt sie außerdem so streng, daß sie sich auch unmöglich welche verschaffen konnte. Aber den Umgang mit uns gestattete er ihr. Das war ihm natürlich eine Ehre und er wußte auch, daß ich eine Frau von Grundsätzen bin. Also wie gesagt, die Kleine fleht und weint und klagt so herzbeweglich, daß ich gerührt werde. Und so leihe ich ihr denn, was wir so an deutschen Büchern zufällig im Hause haben: Heines Reisebilder, Klopstocks Messiade, Kaiser Joseph von Louise Mühlbach, den neuen Pitaval, Eichendorffs Gedichte und die Romane von Paul de Kock. Und das las sie alles, wie ein hungriger Wolf ein Lamm verschlingt, im Laden, wenn der Vater ausging und dann Nachts. Nur beim ersten Roman von Paul de Kock war sie anfangs stutzig und brachte mir das Buch zurück – ich möchte ihr etwas Anderes heraussuchen. Aber ich hatte just keine Zeit und sagte ihr: ›Lies nur, es wird Dir schon gefallen‹. Und richtig gefiel's ihr, denn den zweiten Roman brachte sie schon nicht zurück, und als sie den dritten verdaut hatte, wollte sie nur diesen Schriftsteller lesen. Damit konnte ich dienen, wir haben die Gesamtausgabe. Sie verschlang den Winter über die hundertachtzig Bändchen. Denn, ich bitte Sie, diese Judenmädel haben ja im Grunde alle gar kein moralisches Gefühl!«
Die Damen stimmen eifrig bei. Nur die Frau des Güterdirektors nicht.
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