Und er kannte dieses Antlitz. Tief erschüttert richtete er sich empor. Er befahl, daß man die Leiche ins Totenhaus trage. Dann ging er wieder zu dem Kranken, der ohne Besinnung dalag.
Am nächsten Tage begrub man die Esther Freudenthal. Man wußte nicht, welchen Glaubens sie gewesen, ob sie Jüdin geblieben, ob sie Christin geworden. Auch ihr Onkel Schlome, der in wahnsinnigem, fassungslosem Schmerze an ihrer Leiche kauerte, wußte es nicht. Daher begrub man sie, wo man die Selbstmörder begräbt. Sie war aber Hungers gestorben.
In ihren Kleidern fand man nur ein Päckchen Briefe. Sie hatten alle dieselbe Unterschrift: Géza. Der letzte, welcher den Poststempel eines kleinen ungarischen Städtchens trug, lautete: »Ich will Dir's ehrlich sagen: ich bin der Geschichte satt! Ich bin jetzt hier, bleibe hier und rate Dir nicht, mich aufzusuchen. Mein Wachtmeister, der Koloman, hat mir versprochen, sich Deiner anzunehmen. Du gefällst ihm. Gefällt er Dir nicht, so geh' heim.«
Sie war heimgegangen. –
Der alte Moses starb nicht an den Folgen jener Nacht. Er lebte noch lange; er überlebte seinen Schwager und viele glückliche, gesegnete Menschen. Ein düsterer, einsamer, unheimlicher Mensch, so wankte er dem Grabe zu. Als er starb, weinten nur die Klagefrauen, die dazu gemietet waren. Sein großes Vermögen vermachte er dem Wunderrabbi von Sadagóra, dem heftigsten Feinde des Lichts, dem eifrigsten Verfechter des alten, finstern Glaubens.
Das ist die Geschichte vom Moses Freudenthal, den sie den »Shylock von Barnow« nannten.
Nach dem höheren Gesetz
Es sind nun viele Jahre her, seit die arme Esther zu ihres Vaters Füßen verschieden ist, und auch Moses Freudenthal ist lange tot. Aber das große weiße Haus an der Heerstraße, das nun dem Rabbi von Sadagóra zugehört, steht noch heute so stolz und stattlich da, wie zur Zeit, da der harte, unglückliche Mann darin hauste. Über dem Thore hängt jetzt ein eirundes Blechschild, da ist auf gelbem Grund ein schwarzer Adler gemalt und rings steht die Umschrift: »K.K. Bezirksgericht.« Denn da, wo einst Moses um seine Tochter getrauert, werden jetzt die ruthenischen Diebe verhört, die polnischen Betrüger und die jüdischen Wucherer. Das ist im Erdgeschosse zur Rechten, zur Linken aber besteht noch der Laden, den Moses geführt, nur zeigt das Schild einen andern Namen: »Nathan Silberstein's Spezereiwaren- und Weinhandlung.« Das »W« in »Wein« ist klein, und in »Spezerei« steht statt des »z« ein »s«, – das ist aber nur die Schuld des kleinen, buckeligen Janko, der das Schild gemalt hat.
Im ersten Stockwerk hat sich unter dem neuen Besitzer fast gar nichts geändert, da wohnen, wie bei Moses, der Bezirksarzt zur Miete und der Bezirksrichter. Nur daß der Bezirksrichter ein anderer geworden ist, nicht mehr der gelbe, magere Herr Hippolyt Lozinski, sondern Herr Julko von Negrusz. Er ist der Amtsnachfolger des Herrn von Lozinski, aber in allen Stücken anders als dieser. Herrn Lozinski's ewige Zielscheibe waren die Juden, arm und reich – nicht ihre Herzen, aber ihre Geldbeutel. Und was er von den reichen Juden erpreßte, dafür fütterte er die armen Christen: die Adeligen, die Beamten, die Lieutenants. Seine Frau Kasimira, aus dem hochadeligen Hause Derer von Cybulski, was zu deutsch »von Zwiebel« bedeutet, glänzte auf fünf Meilen in der Runde vor allen anderen Frauen durch drei treffliche Eigenschaften des Herzens: durch die meisten Schulden, die glänzendste Toilette, die rasendste Tanzsucht. Und Hörner setzte sie ihrem Eheherrn auf, so groß, daß man kaum begriff, wie er darüber den Cylinder stülpen konnte auf seinen gelben, mageren Kopf.
Aber das ist nun Alles anders geworden.
Herr von Negrusz erpreßt nichts von den Juden und verpaßt nichts mit den Christen. Er lebt nur seinem Amt und seiner Familie, zwei lieben Bübchen und seiner schönen jungen Gattin. Diese Frau ist schön, sehr schön.
1 comment