Aber die fünfzig Gulden waren nicht da. So ward denn der Bursche nach Italien geschickt und dann kam der Krieg, und nach Magenta stand sein Name unter den offiziell »Vermißten«. Ach, ganz anders noch vermißte ihn sein alter Vater! Der wartete und wartete, aber der Sohn ist nie wieder gekommen. Und seine Tochter ist nun auch tot. »Meine Chane,« pflegt der Greis zu sagen, »war ein ehrlich jüdisch Weib; die Frau Christine da oben, die ›Goje‹ (Heidin), kenn' ich nicht.«
Der Dorfgeher hatte sich nicht versehen, daß ihm sein Kind so herben Schmerz breiten werde. Seine Chane war eben so schön wie gehorsam, eben so züchtig wie fleißig. Nicht allein ihr Vater liebte sie, sie war bei allen Leuten wohl gelitten. Man gönnte ihr allgemein das Glück, als der alte Manasse Silberstein für seinen einzigen Sohn Nathan um ihre Hand warb. Das war ein großes, unerwartetes Glück. Denn die Schranken sind sonst eng gezogen unter diesen Leuten, nur Reich und Reich gesellt sich, Arm und Arm. Es ist dies auch so natürlich bei dem Volke, dem man den Gelderwerb als einzige Beschäftigung, den Geldbesitz als einziges Glück gegönnt durch lange Jahrhunderte. Der arme Dorfgeher konnte es anfangs kaum glauben – der alte Manasse war ja reich, so reich; er hatte einen großen Spezereiwarenladen und betrieb einen sehr schwunghaften Weinhandel mit Ungarn und der Moldau. Es war das schönste Ehrenzeugnis für des armen Dorfgehers Tochter, als die Wahl des Nachbars auf sie fiel. Denn auch Nathan Silberstein war ohne Makel; er war ein braver, klarer, verständiger junger Mensch, gesund und wohlgebaut, und kannte sich im Talmud ebenso gut aus, wie in Geldgeschäften. Und weil er kein Gelehrter werden sollte, sondern ein Kaufmann, so hatte der Vater ihm einen Lehrer für das Hochdeutsche genommen. Nathan hatte das Schreiben und Lesen erlernt, dann arbeitete er einen »Briefsteller für alle Stände« durch und das »Allgemeine oesterreichische bürgerliche Gesetzbuch«. Aus diesen beiden Büchern bestand auch offiziell und vor des Vaters Augen seine deutsche Bibliothek. In Wahrheit aber stand in seinem Bücherschrank, unter den mächtigen hebräischen Folianten versteckt, noch ein kleines deutsches Büchlein. Am Samstag Nachmittag, wenn er im Festgewand mit den Anderen in den gräflichen Park ging, steckte er das Büchlein zu sich, sonderte sich dann ab und las es an einer stillen, heimlichen Stelle, wo sich das Laub um ihn nur leise bewegte. Dabei fühlte er, wie sich auch etwas in ihm leise bewegte, was er sonst an den Wochentagen nie verspürte. Vielleicht war dieses Etwas das Herz. Auf dem Rücken des kleinen Büchleins stand in Golddruck: »Schillers Gedichte.«
Als sein Vater ihm sagte, daß er eine Braut für ihn erwählt und wer das sei, da – da regte sich dieses Etwas nicht. Er sagte gehorsam: »Wie Ihr wollt, Vater!« und wurde vielleicht einen Augenblick lang etwas blasser als gewöhnlich. Und eben so gleichmütig fügte sich die Braut in den Willen ihres Vaters, nur daß sie vielleicht dabei etwas röter wurde. Und dann ward die Verlobung gefeiert und zwei Monate darauf die Hochzeit. In der Zwischenzeit schenkte Nathan seiner Braut hübsche Perlen und kostbares Geschmeide, und das arme Mädchen ihm einen Gebetmantel, auf den es kunstvoll mit Gold- und Silberfäden die Verzierungen gestickt hatte. Auch sprachen sie während der Zeit einige Male mit einander, über ganz Gleichgültiges; von ihnen selber und ihrer Zukunft sprachen sie nicht. Auch für die Vergangenheit fand sich kein herzliches Wort; sie hatten, obwohl Nachbarskinder, keine gemeinsamen Erinnerungen.
Mit großem Aufwand ward die Hochzeit gefeiert: der Wein floß in Strömen, ganze Berge von Fleisch und Backwerk wurden vertilgt, die besten Spielleute und die besten Lustigmacher erheiterten die Gäste. Dann zogen die jungen Eheleute in das große, stattliche Hauswesen, das Manasse seinem Sohne gegenüber den Dominikanern gegründet. Sie hatten sehr viele Arbeit, sie mußten sich den Tag über schwer mühen und lebten still und friedlich mit einander.
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