Er richtet die Welt nach seinem Rechte, die Völker nach Gerechtigkeit!«

»Und den Einzelnen?« schreit es in dem unglücklichen Mann auf, »den Einzelnen – zermalmt er!« Seine Augen ruhen auf den Zeilen des Buches, seine Lippen flüstern die Worte des Gebetes, aber er betet nicht, er kann nicht beten! Wie ein Gespenst erwacht sein ganzes Leben und drängt sich vor sein Auge, wie ein Gespenst und doch in quälender Greifbarkeit und Lebendigkeit ...

»Wer nicht mehr beten kann,« hat ihm sein alter Vater oft gesagt, und er muß heute der Worte gedenken, »den soll man wegweisen von dem Angesichte des Ewigen.« Noch weiß er sich des Tages ganz genau zu entsinnen, da er es vernommen. Damals war er ein Knabe von dreizehn Jahren gewesen und hatte eben zum ersten Male die Betriemen anlegen dürfen, zum Zeichen, daß er in den Bund der Männer getreten. An jenem Tage war ihm das Leben aufgegangen, nicht weich und feenhaft, wie den Glücklichen dieser Erde, sondern hart und nüchtern, wie den anderen Söhnen seines Volkes. Wie alle die Anderen hatte auch er allmählich gelernt, um zweier Dinge willen zu leben: um zu beten und um Geld zu verdienen. Und als er siebenzehn Jahre alt geworden, da hatte ihn sein Vater in seine Stube gerufen und ihm dort kurz und kühl gesagt, in drei Monate werde er heiraten und Chaim Grünstein's Rosele sei seine Braut. Er kannte das Mädchen nicht, er hatte es vorher nur zweimal gesehen, und recht angeschaut hatte er es eigentlich nie. Aber der Vater hatte für ihn gewählt und so war es ihm recht gewesen. Und nach drei Monaten war das Rosele sein Weib ...

Horch! Jubelnd, sehnend, herzergreifend beginnt nun der Vorbeter das uralte Sabbathlied: »Lecho daudi likras kalle.« Und im stürmischen Chor stimmen die Anderen ein: »Lecho daudi likras kalle« – komm', o Freund, der Braut entgegen, den Sabbath laßt uns fröhlich empfangen!

Seltsames Weben in der Seele eines Volkes! Auf die Gottheit und allein auf diese überträgt es alle Glut und alle Sinnlichkeit seines Herzens und seines Geistes. Demselben Volke, welches einst das Hohe Lied gedichtet, den ewigen Hymnus der Liebe, und die Geschichte der Ruth, die schönste Idylle der Weiblichkeit, demselben Volk ist in der tausendjährigen Nacht, Bedrückung und Ruhelosigkeit die Ehe ein Geschäft geworden, geschlossen, um Geld zu erwerben und um die Auserwählten Gottes nicht aussterben zu lassen. Und sie ahnen nicht einmal den entsetzlichen Frevel, der darin liegt.

Auch Moses Freudenthal nicht. Er hat sein Weib hoch gehalten alle Tage ihres Lebens, wie auch sie ihm treu zur Seite gestanden in Freud' und Leid. Es war Segen auf seinen Werken, und was er begann, glückte. Mit rastlosem Eifer studierte er die Sprache der Christen und die deutschen Gesetze; der dreißigjährige Mann lernte wie ein Knabe. Nicht die Geldgier allein trieb ihn, auch ein stolzes Streben nach Ehre und Wissen. Und dieses Wissen trug seine Früchte, er wurde reich, sehr reich. Die Edelleute und die Offiziere kamen in sein Haus und beugten sich vor seinem Gelde; aber durch seinen Stolz und seine Ehrlichkeit zwang er sie, sich auch vor ihm selbst zu beugen. Damals beneideten sie ihn alle, und wenn er vorüberging, dann zischelten sie einander zu: »Das ist der glücklichste Mensch im ganzen Kreise.«

Aber war er es wirklich?! Warum war dann seine Stirne so häufig umdüstert, warum weinte dann das Rosele, wenn es allein war, als wollte ihm das Herz brechen?! Auf dem Glücke dieser beiden Menschen, die sich erst allmählich in gegenseitige Achtung hineingewöhnt, lag ein schwerer Schatten: ihre Ehe blieb kinderlos. Und weil eine fremde Hand sie zusammengefügt, weil sie einander doch in tiefster Seele fremd gegenüberstanden, darum konnten sie es nicht verwinden und fanden in sich kein Gegengewicht gegen diesen Schmerz. Der stolze Mann trug sein Weh verschlossen in der Brust und sah fast unbewegt zu, wie sein Weib dahinwelkte. Wenn seine Leute von Trennung sprachen, dann schüttelte er das Haupt, aber sein Mund fand auch kein Wort der Liebe für die Unglückliche. So vergingen lange Jahre. Aber eines Abends – es war im Winter – als er in die Stube trat und seinem Weibe den »guten Abend« bot, da erwiderte sie seinen Gruß nicht leise, wie gewöhnlich, da blickte sie ihn nicht scheu und gedrückt an, wie sonst, da eilte sie ihm entgegen, da preßte sie sich in seine Arme, als hätte sie jetzt erst das Recht, an seinem Herzen zu ruhen. Überrascht, dann in seligem Ahnen blickte er ihr in das erregte, hocherrötende Antlitz. Dann ergriff er ihre Hand, zog sie auf den Sitz neben sich nieder und lehnte ihr Haupt an seine Brust. Ihre Lippen bebten, aber sie fanden beide kein Wort für ihre Seligkeit, kein armes Menschenwort! ...

»Lobet Gott den Allgelobten!« tönt die Stimme des Vorbeters in die Träume des Brütenden. Und die Gemeinde erwidert: »Gelobt sei Gott, unser Herr, der da schaffet den Tag und schaffet die Nacht, der da wälzet das Licht vor die Finsternis und die Finsternis vor das Licht, Er, der Allmächtige, der Beständige, der Gott der Heerscharen!«

»Gelobt sei Gott!« ... Mit welchen Gefühlen hatte Moses Freudenthal mit eingestimmt in diesen Ruf an jenem Sabbathabend vor zweiundzwanzig Jahren, an dem er zum ersten Mal als Vater das Haus Gottes betreten! Wie hatte sein Herz geblutet und gejauchzt, wie hatte er geweint vor Freude und Schmerz! Denn wohl war ihm ein Töchterlein geboren worden, aber sein Weib war gestorben an der späten, schweren Geburt. Ergeben und ohne Klage hatte sie die ungeheuren Schmerzen ertragen und selbst in ihren letzten Stunden noch ging ein leises Lächeln über das verblaßte Antlitz, so oft sie die Stimme der Neugeborenen vernahm. Und in jenen qualvollen Stunden hatten sich auch die Herzen der Gatten gefunden, die fremd geblieben in den langen Jahren ihrer Ehe. Er allein verstand es, warum sein Weib sagen konnte: »Nun kann ich zufrieden sterben,« und sie allein verstand es, warum er sich immer wieder über ihre Hand beugte und schluchzte: »Verzeih', Rosele, verzeih!« – »Das Kind,« flüsterte sie, »gieb Acht auf das Kind!« Dann zuckte sie zusammen und war tot.