Und am nächsten Morgen trugen sie sie hinaus zum »guten Orte«. Er aber zerriß seine Kleider und streifte die Schuhe von seinen Füßen und saß sieben Tage und sieben Nächte auf dem Estrich des Totenzimmers, wie es Trauerbrauch ist in Israel. Er weinte nicht; trocken und glanzlos starrte sein Auge in die Flamme des Totenlichts, das die Woche über brennen muß, damit die heimatlose Seele eine Ruhestatt habe auf Erden, ehe ihr Gott ihren Platz weist. »Er spricht mit der Toten,« flüsterten scheu seine Verwandten, als er immer und immer wieder vor sich hin murmelte: »Nun hätte alles gut werden können und nun bist Du tot!« Aber in milden Thränen löste sich sein Schmerz, als sie ihm das Kind brachten und fragten, wie es heißen solle. »Esther,« erwiderte er, »Esther, wie meine Mutter.« Lange hielt er sein Töchterchen auf den Armen und seine Thränen fielen auf das kleine Antlitz. Dann gab er es der Wärterin zurück und war von da ab gefaßt und ruhig. So ging die Trauerzeit vorüber. Rastlos und emsig, wie kaum vorher ging er an seine Geschäfte. Ein neuer Geist schien über den Mann gekommen, jeder Tag brachte kühne Unternehmungen und neue waghalsige Pläne. Was kein Anderer versucht hätte, er wagte es, und das Glück blieb ihm treu. Nun führte er auch seinen Lieblingswunsch aus, kaufte den Platz gegenüber den Dominikanern und begann da ein großes Haus zu bauen. So vergingen die Tage in ruheloser Arbeit, des Abends aber saß er stundenlang an der Wiege seines Kindes und blickte in die weichen, noch unausgebildeten Züge. Und in den ersten Monaten hörte die Wärterin oft – es ward ihr fast unheimlich dabei – wie er sich sogar des Nachts erhob, in der Kinderstube niederkauerte und lange Zeit stumm und bewegungslos im Dunkel auf die Atemzüge des schlafenden Kindes horchte. Die Tage wurden zu Monaten und Jahren, die kleine Esther wuchs heran und ward sehr klug und schön. Sie sah dem Vater ähnlich, hatte sein schwarzes, gelocktes Haar, die hohe Stirn und die festen geschlossenen Lippen, aber fremd und rührend standen in diesem trotzigen Kindergesichte die sanften blauen Augen der Mutter. Oft und viel mußte der Vater in diese hellen Kinderaugen blicken. Und in solchen Momenten umfaßte er wohl auch sein Töchterchen und preßte es an sein Herz und gab ihm tausend süße Schmeichelnamen; sonst wies der ernste, verschlossene Mann dem Kinde wenig seine fast wahnsinnige Liebe. Als Esther fünf Jahre alt geworden, zogen sie aus dem engen Hause in der Judenstadt in das große, weiße Haus gegenüber dem Kloster. Von da ab begann auch Moses für die Erziehung seines Kindes zu sorgen; in seiner Weise freilich oder richtiger, in der althergebrachten Weise. Esther lernte kochen, beten und rechnen; so wußte sie genug für das Haus, für den Himmel und für das Leben. Und was hätte ihr auch der Vater noch außerdem lehren lassen sollen? Das Deutsche etwa? Sprechen konnte sie es, das Lesen und Schreiben schien ihm, wie allen Juden in Barnow, für ein Mädchen unnützer Luxus. Er hatte es gelernt, um seine Geschäftsbriefe zu schreiben und das bürgerliche Gesetzbuch zu verstehen; seine Tochter bedurfte keines von beiden. Oder konnte sie etwa durch größeres Wissen besser und glücklicher werden? »Wenn ein jüdisch Kind gut beten kann,« geht das Wort unter diesen verdüsterten Menschen, »so braucht es nichts anderes, um gut und heiter zu sein!« Und doch sollte die kleine Esther noch das Deutschlesen lernen und viel, viel mehr dazu! ...
»Es war eine schwache Stunde!« murmelt der Mann und erhebt sich mit den Anderen zu dem langen Gebete, das man stehend sprechen muß, »eine schwache, thörichte Stunde! Weh' mir, daß ich nachgegeben, und Fluch dem, der mich dazu verführt!«
O, wie du da frevelst, Moses Freudenthal! Wie dich das Unglück auch geläutert und dich dein eigen Herz erkennen gemacht, noch immer kannst du es nicht erfassen, daß es eine Sünde gewesen, als du deinem Kinde das Licht und die Welt verschließen gewollt, und daß du recht gethan, als du in jener Stunde gestattet, daß ein Anderer sie ihm erschließe. O wie du frevelst, alter Mann, wie du dein Herz verhärtest in Selbstsucht und Unverstand, wenn du weiter sprichst: »Das war mein und ihr Unglück! Denn von da ab ward ihr Sinn verstrickt und abwendig gemacht mir und meinem Gotte! O Fluch, Fluch jener Stunde!«
Das aber war vor dreizehn Jahren gewesen, an einem milden, hellen Sommerabend. Auf den Häusern und Plätzen lag das Mondlicht und der Staub der Straße glänzte weit hinaus, wie mattes Silber. Moses Freudenthal saß auf der Steinbank vor seinem Hause und brütete vor sich hin. Es war ihm seltsam weich zu Mute; er mußte immer wieder, ohne daß er es wollte, seiner Jugend und seines verstorbenen Weibes gedenken. Ihm zur Seite saß sein neunjähriges Töchterchen und blickte mit weit geöffneten Augen hinaus in die Mondnacht. Da kam ein Mann die Gasse herauf und blieb vor den Beiden stehen. Moses erkannte ihn nicht sogleich, aber die kleine Esther sprang auf und jubelte: »Onkel Schlome! Das ist schön, daß du zu uns kommst!« Nun erkannte auch Moses den späten Gast und stand befremdet auf.
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